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Universitätsgründer. Humboldts Leitgedanken für die Berliner Universität orientierten sich am Geist der Aufklärung und der Klassik.

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250. Geburtstag: Wilhelm von Humboldt als Berliner Aufklärer

Von der Freiheit des Denkens: Die Ideen des großen Bildungsreformers Wilhelm von Humboldt besitzen bis heute eine ungebrochene Aktualität. Ein Essay anlässlich seines 250. Geburtstages.

Oft klagten die beiden Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt darüber, dass ihre Kindheit „öde und freudenlos dahingewelkt“ sei in dem Tegeler „Schloss Langweil“. Es war zwar in einer wunderschönen Landschaft vor den Toren der Stadt Berlin gelegen, bot aber keine gesellige Unterhaltung. Ohne Spielkameraden wurden sie privat von Hauslehrern unterrichtet, die ihnen den früh verstorbenen Vater nicht ersetzen konnten.

Doch damit ging es glücklicherweise zu Ende, als der 18-jährige Wilhelm und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Alexander 1785 in das Bildungsmilieu der „Berliner Aufklärung“ eintraten und jenen besonderen Konversationsstil kennenlernten, der für die Aufklärung in Preußen charakteristisch war: Selbstständig denkende Menschen versuchten durch wechselseitiges Argumentieren herauszufinden, was man gemeinsam für vernünftig halten konnte.

Es gab Lesegesellschaften, an denen die Brüder Humboldt teilnahmen, um auf der Höhe des wissenschaftlichen Forschens und philosophischen Denkens zu sein. Besonders gern besuchten sie den Salon des jüdischen Arztes Marcus Herz und seiner Frau Henriette. Und dann gab es auch noch die „Gesellschaft von Freunden der Aufklärung“, die sich regelmäßig mittwochs in wechselnden Privatwohnungen traf. Einige ihrer Mitglieder wurden zu privaten Lehrern und Ratgebern Wilhelm von Humboldts. Von ihnen lernte er, „seinen eigenen Verstand zu gebrauchen“, ganz so, wie es Immanuel Kant 1784 in seiner „Beantwortung der Frage: was ist Aufklärung?“ postuliert hatte, die in der „Berlinischen Monatsschrift“, dem Publikationsorgan der Mittwochsgesellschaft, erschienen war.

Das gesellige Klima der Berliner Aufklärung

Auch der jüdische Geschäftsmann und Philosoph Moses Mendelssohn war ein gern gesehener Gast im Salon Herz und stand den Freunden der Aufklärung nahe. In seinem ebenfalls 1784 veröffentlichten Beitrag „Was heißt aufklären?“ stimmte er zwar mit Kant weitgehend überein, setzte jedoch einen anderen Akzent. Mendelssohn verknüpfte theoretische Aufklärung mit praktischer Kultur unter dem Oberbegriff der Bildung. Denn ohne die Korrektive der Arbeit, Künste und Geselligkeitssitten bliebe Aufklärung abstrakt; und ohne Verstandesgebrauch wäre Kultur eine bloße Spielerei.

Das gesellige und geistige Klima der Berliner Aufklärung hat Wilhelm von Humboldt tief geprägt. Seinen Wunsch nach Bildung erfüllte er sich zunächst durch ein frei gestaltetes Studium an der Universität in Göttingen, das als „deutsches Athen“ einen ausgezeichneten Ruf hatte. Er konzentrierte sich auf antike Sprachen und Literaturen, Experimentalphysik und Lebenswissenschaft, allgemeines Staatsrecht und politische Philosophie.

Nach bestandenen juristischen Prüfungen begann Humboldt 1790 am Kammergericht in Berlin zu arbeiten. Doch der Geist der Aufklärung war in ihm zu mächtig, um sich durch Vorschriften des absolutistischen preußischen Staates gängeln zu lassen. Und so traf Humboldt für sich eine radikale Entscheidung. Mit seiner Frau Caroline zog er sich 1791 ins Privatleben zurück, um frei denken und schreiben zu können. Seinem Freund Georg Forster teilte er mit, dass für ihn „der wahren Moral erstes Gesetz ist: bilde dich selbst, und nur ihr zweites: wirke auf andere durch das, was du bist“. Um seine beiden Maximen lebenspraktisch verwirklichen zu können, erklärte er die Freiheit zur ersten, unerlässlichen Bedingung. Eng damit verbunden war die Mannigfaltigkeit von Situationen als zweite Grundlage, ohne die auch der freieste Mensch sich nicht wirklich bilden könne, sondern in einförmigen Lagen eingeschlossen bliebe.

Humboldt, Schiller und Goethe

Theoretisch begründet hat Humboldt seine praktische Entscheidung in einer Schrift über „die Grenzen der Macht des Staates“. Sie sollte auf das Nötigste, nämlich die Sicherheit seiner Bürger zu schützen, beschränkt werden. Dagegen gelte es, „die freieste, so wenig als möglich schon auf die bürgerlichen Verhältnisse gerichtete Bildung des Menschen“ zu ermöglichen. Friedrich Schiller fand sich gern bereit, Teile von Humboldts Überlegungen in seiner Kulturzeitschrift „Neue Thalia“ 1792 zu veröffentlichen.

Den Prozess seiner Selbstbildung suchte Humboldt durch längere Reisen zu bereichern. Doch den nachhaltigsten Impuls erhielt er nicht in Paris und Wien, nicht in der Schweiz und in Spanien. Sondern in Jena, wohin er im Mai 1794 zog, um Schiller nahe zu sein, der dort an der Universität als Professor für Geschichte tätig war. Den geistigen Schwerpunkt ihrer Freundschaft bildeten Schillers philosophische Untersuchungen, für die er seine poetische Arbeit zurückgestellt hatte. Humboldt war als Gesprächspartner dabei, als Schiller 1794/95 seine Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ schrieb, in denen er die Kunst als eine Tochter der Freiheit charakterisierte und den Spieltrieb für eine ganzheitliche Bildung des Menschen in Anspruch nahm, in der sinnlicher Stofftrieb und geistiger Formtrieb zusammenspielen.

Zur gleichen Zeit freundeten sich Schiller und Goethe an. Im Juli 1794 schlossen sie jenen lebenslangen Bund, der die deutsche Klassik begründete und durch die Idee der Ganzheit in der Vielfalt ihrer Erscheinungen zusammengehalten wurde. Schillers Spieltrieb fand in Goethes vergleichender, dynamischer Morphologie seine Entsprechung: Alles Leben, sei es pflanzlich, tierisch oder menschlich, ist „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“. Es wundert nicht, dass sich auch Humboldt durch diese Gestalt- und Bildungstheorie begeistern ließ und zusammen mit Goethe botanische und anatomische Studien unternahm.

Nur widerwillig zurück nach Preußen

Als nach zehn Jahren Humboldts ungebundene Existenz zu Ende ging und er in das Getriebe politischer und kultureller Aktivitäten hineingezogen wurde, konnte er von dem zehren, was ihm Aufklärung und Klassik vermittelt hatten. In Rom, wo er von 1802 bis 1808 als preußischer Regierungsvertreter am Vatikan tätig war, strebte er danach, „die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ zu kultivieren. Goethe schrieb er, dass er in Rom „ein gewaltsames Hinreißen in eine von uns nun einmal als edler und erhabener angesehene Vergangenheit“ empfinde, auch wenn sie nur in Ruinen sichtbar sei und in der Fantasie vergegenwärtigt werden müsse.

Im September 1808 verließ Humboldt das geliebte Rom, um während eines kurzen Heimaturlaubs finanziell-familiäre Probleme zu lösen. Er ahnte nicht, dass er Rom nie wiedersehen sollte und in eine Reformbewegung geriet, die nach Preußens katastrophaler militärischer Niederlage gegen Frankreich unausweichlich geworden war. Gegen seinen erbitterten Widerstand wurde er 1809 zum Leiter der Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts bestimmt. Der Individualist, der die Freiheit liebte und dem Staat enge Grenzen seiner Wirksamkeit aufgezeigt hatte, wurde für eine staatliche Bildungsreform in ganz Preußen verwendet, die von oben durchgesetzt werden sollte.

Seine widersprüchliche Situation konnte er nur durch eine paradoxe Intervention lösen. In den 16 Monaten, die er 1809/10 als Bildungspolitiker tätig war, versuchte er, seine ihm eigenen Maximen der Bildung als allgemeines Programm zu formulieren und zu institutionalisieren. Seine Schulpläne, ebenso wie seine Denkschrift zu der von ihm organisierten Gründung der Berliner Universität 1810, knüpften an das an, was ihm früh klar geworden war, angeregt durch Kant und Mendelssohn, Goethe und Schiller. Sein Plädoyer für die universitäre Freiheit von Forschung und Lehre und für die Autonomie der Universität verdankte sich dem Geist der Aufklärung und der Klassik.

Als Gesandter in Wien und London

Nach dem kurzen Zwischenspiel als Bildungstheoretiker und -politiker wurde Humboldt ein Jahrzehnt lang mit ungeliebten staatspolitischen Geschäften betraut: als Gesandter in Wien und in London, als Vertreter Preußens auf dem Wiener Kongress, schließlich als preußischer Minister für ständische, provinziale und kommunale Angelegenheiten. Erst als er 1820 zur freien und einsamen Arbeit eines Wissenschaftlers und Philosophen zurückfand, der die Sprach-Gedanken des Menschen in der Vielfalt ihrer Erscheinungen untersuchte, konnte er sich wieder glücklich fühlen. Er starb am 8. April 1835 und wurde im Park von Tegel, unter der Statue der Hoffnung, beerdigt.

In kulturgeschichtlichen Darstellungen wird Wilhelm von Humboldt oft als eine antiquierte Geistesgröße behandelt, die nur noch einem traditionsbewussten Bildungsbürgertum zur Orientierung dienen könne. Seine geistige und charakterliche Entwicklung im Zeitalter der Aufklärung zeigt ein anderes Bild. Denn im Hinblick auf die gegenwärtige Lage, in der die Kräfte der Gegenaufklärung und Unbildung immer stärker zu werden drohen, besitzen seine Ideen der geistigen Freiheit, mannigfaltigen Erfahrungslagen und aufgeklärten, kultivierten Bildung eine ungebrochene Aktualität. Daran sollte man sich nicht nur anlässlich seines Geburtstages am 22. Juni 1767 erinnern.

Der Autor ist Germanist, Philosoph und Publizist. Von ihm stammt die Doppelbiografie „Die Brüder Humboldt“.

Manfred Geier

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