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Ein Lehrer und seine Schüler in einem Kupferstich von 1835.

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250 Jahre Volksschule in Preußen: Lesen, Schreiben und Beten

Um 1763 ist das Schulwesen in Preußen in einem katastrophalen Zustand. Mit dem vor 250 Jahren eingeführten Generallandschulreglement wollte Friedrich II. das ändern. Doch bis sich die allgemeine Schulpflicht durchsetzte, war es ein langer Weg.

Johann Julius Hecker ist Bildungsmanager der ersten Stunde. Der Theologe und Pädagoge wirkt im 18. Jahrhundert als Pastor an der Berliner Dreifaltigkeitskirche. Er gründet nicht nur die erste praxisorientierte Realschule der Stadt, sondern auch ein Seminar zur Lehrerausbildung. Dort unterweist er angehende Dorfschullehrer unter anderem in der Kunst des Seidenbaus. Womöglich ist das das Zünglein an der Waage, mit der sich der Pietist die Gunst Friedrichs II. erwirbt – die Seidenzucht ist eines der vielen Projekte des Königs. Durch die landesweite Kultivierung von Seidenraupen will er Preußen unabhängig machen von Seidenimporten.

Da kommt ihm Hecker mit seinem Schulgarten gerade recht. Friedrich macht dessen Institut zum staatlichen Küster- und Schulmeisterseminar und ihn selbst zum wichtigsten Berater für Volksbildung. Eine für beide nutzbringende Verbindung – mit Folgen für Preußen, die bis heute nachwirken. Als am 12. August 1763 das maßgeblich von Hecker verfasste Generallandschulreglement in Kraft tritt, gilt damit die erste für ganz Preußen gültige Schulordnung.

Das Generallandschulreglement befördert die Entwicklung der Volksschule und verhilft schließlich der allgemeinen Schulpflicht in Deutschland zum Durchbruch. Wolfgang Neugebauer, Professor für die Geschichte Preußens an der Humboldt-Universität, nennt es das „wohl wichtigste Schulreglement des 18. Jahrhunderts“. Darin heißt es: „Zuvörderst wollen Wir, dass alle Unsere Untertanen (...) ihre eigenen sowohl als ihrer Pflege anvertrauten Kinder, Knaben oder Mädchen (…) in die Schule schicken, (...) bis sie nicht nur das Nötigste vom Christentum gefasst haben und fertig lesen und schreiben, sondern auch von demjenigen Rede und Antwort geben können, was ihnen nach den von Unsern Konsistorien verordneten und approbierten Lehrbüchern beigebracht werden soll.“

Lehrer sollten Seide anbauen - als Nebenerwerb

Die Schulpflicht wird auf acht Jahre festgelegt, das Schulgeld auf sechs Pfennige, ein Lehrplan wird aufgestellt. Die Schüler sollen Lesen und Schreiben lernen, beten und Kirchenlieder singen; der Unterricht soll vor- und nachmittags stattfinden, zu je drei Stunden. Außerdem definiert das Reglement Anforderungen an die Lehrer. Nur diejenigen sollen eine Stelle bekommen, „welche in dem kurmärkischen Küster- und Schulseminario zu Berlin (...) die eingeführte Methode des Schulhaltens gefasst haben“. Der in Heckers Seminar gelehrte Seidenbau ist ausdrücklich erwünscht: Er ist auch für Dorflehrer als Nebenerwerb vorgesehen.

Viele Bestimmungen sind laut Neugebauer nicht neu. Manches folgt früheren regionalen Gesetzen, anderes ist bereits gängige Praxis. Doch nun gibt es erstmals Regeln zur elementaren Schulbildung für ganz Preußen. Bis dato ist die Volksbildung in Preußen Stückwerk, und zwar häufig schlechtes. Die allgemeine Schulpflicht, 1717 von Friedrich Wilhelm I. für das fünfte bis zum zwölften Lebensjahr befohlen, gilt nur für die königlichen Domänen – und „nur dort, wo Schulen sind“. Vor allem auf dem Land wird die Schulpflicht meist ignoriert. Statt zu lernen, müssen die Kinder auf dem Feld mitarbeiten. Wenn überhaupt, gibt es sonntags nach dem Gottesdienst Unterricht oder im Winter.

Der Fachkräftemangel ist ein Grund für die Reform

Auch den Dorfschullehrern geht es schlecht. Das Schulgeld wird meist in Naturalien bezahlt und reicht nicht zum Leben. Häufig ist der Lehrer auch Küster der Dorfkirche. Überhaupt sind die Schulen fest in der Hand der Kirchen, denn die Schulaufsicht liegt beim Pfarrer. Erst im 1794 verabschiedeten Allgemeinen Landrecht heißt es: „Die Schulen und Universitäten sind Veranstaltungen des Staates.“

Wo Schule nur eine sporadische Angelegenheit ist, resultiert Fachkräftemangel – durchaus keine Erfindung unserer Zeit. Handel und Manufakturen erleben im 18. Jahrhundert einen Aufschwung, dafür werden Arbeitskräfte gebraucht. Friedrich II. macht die Volksbildung zur Chefsache. Anfang 1763, die Friedensverhandlungen zur Beendigung des Siebenjährigen Krieges laufen, teilt er seinem Etatminister mit: Nach dem Friedensschluss wolle er sich um die „Verbesserung derer vorhin und bisher so gar sehr schlecht bestelleten Schulen auf dem Lande“ kümmern. Am 1. April gibt der König den Befehl, „ein ordentliches Reglement“ zu verfassen.

"Jene düsteren Winkel der Misshandlung, die man Schulen nannte"

Das Generallandschulreglement ist vor allem ein Signal dafür, dass der Staat die Bildung als wichtig anerkennt. Doch das Gesetz kann nicht von heute auf morgen die Bedingungen in den Provinzen verbessern. Wie zäh sich die Lage in den preußischen Landschulen bis ins 19. Jahrhundert hinein verbessert, schildert 1842 der westfälische Unternehmer und Politiker Friedrich Harkort.

„Drei Jahrhunderte entlang seit der Reformation haben unsere Volksschulen meist eine Nacht des Druckes und der Dürftigkeit durchwandert“, schreibt Harkort. „Schneider, Bediente, Unterofficiere und Küster trugen häufig die armselige Leuchte des Unterrichtes in jene düsteren Winkel der Mißhandlung und des Zwanges, welche man Schulen nannte.“ Er beklagt fehlende Mittel für die öffentlichen Schulen. „In Massen betrachtet, ist in Preußen Vieles geschehen“, schreibt er, „während die Ärmlichkeit der Einzelnheiten häufig gar nicht zu verkennen ist.“

Tatsächlich bleibt die Schulpflicht auch nach dem Generallandschulreglement in vielen Teilen Preußens wirkungslos. Viele Eltern können das Schulgeld nicht zahlen und nicht auf die Arbeitskraft ihrer Kinder verzichten. Außerdem gibt es längst nicht überall Schulen. Wo es sie gibt, drängen sich oft mehr als 100 Schüler aller Altersstufen in einer primitiven Kammer um einen einzigen Lehrer. Um 1800 besucht nur etwa die Hälfte der schulpflichtigen Kinder eine Schule, 1816 sind es knapp 60 Prozent. Immerhin steigt die Schulbesuchsquote kontinuierlich: 1846 liegt sie bei über 80 Prozent.

Um 1900 gibt es überall öffentliche Volksschulen

Die Situation bessert sich deutlich um die Jahrhundertwende. Um 1900 gibt es endlich überall öffentliche Volksschulen. Für die Lehrerausbildung hat sich ein Seminarsystem etabliert, das Deutschland anderen europäischen Ländern und den USA zum „nachgeahmten Vorbild“ macht, wie Franz-Michael Konrad urteilt, Professor für historische Pädagogik an der Uni Eichstätt. Eine entscheidende Hürde auf dem Weg zur Durchsetzung der Schulpflicht fällt mit dem Verbot der Kinderarbeit. 1839 verbietet Preußen bereits die Arbeit von Kindern unter neun Jahren, 1904 schließlich wird die gewerbliche Kinderarbeit in Deutschland komplett verboten.

Als nach dem Ersten Weltkrieg 1918 die Monarchie abgeschafft ist, ändert das laut Konrad für die Schulen kaum etwas. Volksschule, Mittelschule und Gymnasium bleiben nebeneinander bestehen. Die Sozialdemokraten können sich mit der Forderung nach einer Einheitsschule nicht durchsetzen. 1920 macht das Reichsgrundschulgesetz den Besuch einer vierjährigen öffentlichen Grundschule zur Pflicht. Private Vorschulen und Hausunterricht werden weitestgehend verboten – ein Kompromiss zwischen Konservativen und Sozialdemokraten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg steht das gegliederte Schulsystem zur Disposition. Die Alliierten drängen auf Reformen. Wieder wird über eine Einheitsschule diskutiert. Aber nur in der sowjetischen Besatzungszone wird sie 1946 tatsächlich eingeführt. Im Westen bleibt es beim dreigliedrigen System. In Berlin wird zumindest die Grundschule auf sechs Jahre verlängert. 1964 wird mit dem Hamburger Bildungsabkommen die traditionelle Volksschule formell aufgelöst. Sie geht in der Grundschule auf und in einem neuen Schultyp, der für die Klassen fünf bis neun der Regelschule begründet wird: der Hauptschule. Der Begriff „Volksschule“ aber lebt noch eine Zeitlang im Namen vieler Grund- und Hauptschulen in der Bundesrepublik fort.

Aus der preußischen Seidenzucht übrigens ist am Ende doch nichts geworden. Denn obwohl Friedrich alle Bauern zum Seidenbau verpflichtete, blieb der Ertrag gering. Die wenigsten schafften es, die empfindlichen Seidenraupen aufzuziehen. Nach der Reichsgründung 1871 war mit der Seide aus Preußen endgültig Schluss.

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