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Zbaszyn, 1938. Vor 75 Jahren, am 28. und 29. Oktober 1938, wurden 17 000 polnische Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen Reich nach Polen deportiert. Tausende wurden in dem Grenzort unter oft menschenunwürdigen Bedingungen interniert.

© picture-alliance / IMAGNO/Austri

75. Jahrestag der "Polenaktion": Generalprobe für die Deportation

Polnische Juden wurden schon 1938 aus dem Deutschen Reich ausgewiesen, darunter der junge Marcel Reich-Ranicki. Wie tausende andere in Berlin wurde er am 28. Oktober im Morgengrauen von der Polizei abgeholt.

„Am 28. Oktober 1938 wurde ich frühmorgens, noch vor 7 Uhr, von einem Schutzmann, der ebenso aussah wie jene Polizisten, die auf der Straße den Verkehr regelten, energisch geweckt.“ Mit diesen Worten beginnen die Erinnerungen des kürzlich verstorbenen Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki an einen Vorgang, der in der Sprache des Nazis kurz „Polenaktion“ genannt wurde. „Nachdem er meinen Pass genauestens geprüft hatte, händigte er mir ein Dokument aus. Ich würde, las ich, aus dem Deutschen Reich ausgewiesen. Ich solle mich, ordnete der Schutzmann an, gleich anziehen und mit ihm kommen.“ Reich-Ranicki, der damals in Berlin lebte, wandte ein, dass er das Reich dem Bescheid zufolge „innerhalb von vierzehn Tagen zu verlassen“ habe. Doch der „Schutzmann“ beharrte: „Nein, sofort mitkommen!“

Bei der „Polenaktion“ handelte es sich um die brutale Abschiebung von rund 17 000 polnischen Jüdinnen und Juden aus Deutschland im Oktober 1938. Im öffentlichen Gedächtnis in Deutschland traten diese Deportationen hinter die Ereignisse der Pogromnacht am 9. November 1938 zurück und werden kaum erinnert. Auch in den zahlreichen Nachrufen auf Marcel Reich-Ranicki fand dieses traurige Kapitel der deutsch-polnisch-jüdischen Beziehungsgeschichte kaum Erwähnung. Dabei kann es durchaus als „Auftakt zur Vernichtung“ (Jerzy Tomaszewski) gesehen werden – und als „Generalprobe“ für die späteren Deportationen.

Im Jahre 1933 lebten rund 50 000 bis 60 000 Jüdinnen und Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit in Deutschland. Die meisten von ihnen wohnten in Berlin, viele waren im Zuge des Ersten Weltkriegs als Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene oder Arbeitsmigranten hierher- gekommen, andere waren auf dem Weg in die USA in Deutschland „hängen geblieben“. Dem nationalsozialistischen Regime galten sie wie die Einwanderer aus Russland als „Ostjuden“, derer man sich als Erster entledigen wollte.

Auch in Polen erlag das autoritäre Obristenregime nach dem Tod des charismatischen Marschalls Pilsudski zunehmend dem Druck antisemitischer Stimmungen. Bereits seit 1936 wurde der Plan einer Revision des Staatsbürgerschaftsgesetzes beraten, durch die den Angehörigen nationaler Minderheiten die Staatsangehörigkeit leichter entzogen werden konnte.

Staatenlose Polen in Österreich? Nazi-Deutschland ist alarmiert

Realisiert wurde dieses Vorhaben kurz nach dem sogenannten Anschluss Österreichs im März 1938. In Polen befürchtete man nun eine massenhafte Rückkehr arbeits- und vermögensloser Juden und Jüdinnen. Wer sich fünf und mehr Jahre im Ausland aufhielt und dadurch angeblich die Verbindungen zum polnischen Staat verloren habe, sollte die Staatsbürgerschaft verlieren. Im Oktober 1938 erging zudem ein Erlass, dass sich jeder im Ausland lebende polnische Staatsangehörige beim zuständigen Konsulat melden müsse, um die Gültigkeit seines Passes bestätigen zu lassen – andernfalls drohe der Entzug der Staatsbürgerschaft. In Nazi-Deutschland war man inzwischen alarmiert. Staatenlose würde man schwerer abschieben können.

SS-Führer Himmler veranlasst die "Polenaktion"

Botschafter Hans Adolf von Moltke wurde zu Verhandlungen über eine Rücknahme der Bestimmung ins polnische Außenministerium geschickt. Er drohte schon mit einer Ausweisung der polnischen Staatsbürger aus dem Reichsgebiet, was jedoch in Warschau keine Wirkung zeigte. Deutsche und Polen erließen nun wechselseitig Verordnungen, die gleichzeitig die polnischen Juden und das Nachbarland unter Druck setzen sollten. Schließlich setzte Polen den 29. Oktober als Stichtag fest, an dem die Pässe polnischer Juden im Ausland ungültig werden sollten. Daraufhin veranlasste der Chef der deutschen Polizei und Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, am 26. Oktober die „Polenaktion“. „Unter Einsatz aller Kräfte der Sicherheits- und Ordnungspolizei und unter Zurückstellung anderer Aufgaben“ sollten alle polnischen Juden im Reichsgebiet unverzüglich in Abschiebehaft genommen und in Sammeltransporten zur polnischen Grenze abgeschoben werden.

Polizei, SS, Behörden und Reichsbahn kooperieren eng

Dies geschah in enger Kooperation von Polizei, SS, Reichsbahn, Diplomatie und Finanzbehörden – ein Vorgehen, das zum Muster für spätere Deportationen wurde. Auf der Basis der fremdenpolizeilich geführten Adressenlisten begannen die Ausweisungen am 27. Oktober 1938 in Westdeutschland und wurden dann am 28. Oktober seit den frühen Morgenstunden reichsweit durchgeführt. Den Betroffenen wurde ein Ausweisungsbefehl ausgehändigt, dem die Verhaftung und die Deportation in Sonderzügen in Richtung auf die polnische Grenze folgten. Mitnehmen durften sie zehn Reichsmark und Handgepäck. Zahlreiche aus dem Schlaf Gerissene blieben in Nachthemd oder Schlafanzug und konnten nur einen Mantel überwerfen, bevor sie zu den Sammelstellen gebracht wurden.

Erfasst wurden zumeist ganze Familien. In Berlin und anderen Städten wurden in manchen Bezirken nur die erwachsenen Männer deportiert. Die Nazis gingen davon aus, dass Frauen und Kinder folgen würden. In Berlin und Leipzig konnten Hunderte, die rechtzeitig gewarnt wurden, noch in die polnischen Konsulate fliehen. Wem es nicht gelungen war, sich so oder anders der Deportation zu entziehen, wurde in verplombten Sonderzügen bis kurz vor die polnische Grenze gebracht – aus dem Süden nach Beuthen/Bytom, im Norden nach Zbaszyn, an der Bahnstrecke Berlin-Posen-Warschau.

"Wohin der Zug fuhr, sagte man uns nicht", schreibt Marcel Reich-Ranicki

Über die Fahrt zur polnischen Grenze schreibt Marcel Reich Ranicki: „Erst am späten Nachmittag, als es schon dunkel war, brachte man uns zu einem Nebengleis des Schlesischen Bahnhofs. Dort wartete ein langer Zug. Alles war genau vorbereitet, alles lief ruhig ab, es wurde weder gebrüllt noch geschossen. Offensichtlich sollte die Aktion der Bevölkerung nicht auffallen. Wohin der Zug fuhr, sagte man uns nicht. Doch war bald klar, dass die Fahrt in Richtung Osten ging, also zur polnischen Grenze. Wir froren, denn die Waggons waren nicht geheizt, aber jeder hatte einen Sitzplatz. Verglichen mit späteren Transporten waren es noch menschliche, ja nahezu luxuriöse Bedingungen.“

Am deutsch-polnischen Grenzübergang sah es ganz anders aus. Das Chaos war schockierend. In Zbaszyn mussten sich von Oktober 1938 bis zum Kriegsausbruch am 1. September 1939 insgesamt rund 9000 Menschen in einer lagerähnlichen Umgebung unter schwierigsten Bedingungen aufhalten. Sie wurden unter katastrophalen hygienischen Bedingungen ohne Wasser und Heizung in leerstehenden Militärbaracken, vor allem Pferdeställen, und in einer großen Mühle untergebracht. Nur einige wenige, die illegal mehr als die erlaubten zehn Reichsmark mitgenommen hatten, konnten sich nach ihrer Ankunft ein Zimmer im Ort mieten.

Jüdische Hilfsorganisationen richteten Schulen und Großküchen ein

Nach den ersten Tagen gelang es den rasch eintreffenden jüdischen Hilfsorganisationen, im Lager eine gewisse Infrastruktur zu schaffen. So wurden Schulen, Polnisch-Sprachkurse, Werkstätten und Großküchen eingerichtet, die das Leben der Internierten etwas leichter machten. Weitere Zimmer im Ort konnten angemietet werden. Hervorzuheben ist, dass sich die polnische Bevölkerung in Zbaszyn im Gegensatz zu den staatlichen Stellen recht hilfsbereit und solidarisch verhielt. Im Laufe der Zeit konnten zahlreiche Deportierte zu Verwandten nach Polen reisen oder mit den begehrten Visa, die vor allem Kindern gewährt wurden, nach England oder Skandinavien gebracht werden.

Reich-Ranicki fuhr nach Warschau weiter, wurde 1940 ins Ghetto gezwungen

Auch Marcel Reich-Ranicki gelang die Weiterreise nach Warschau. Doch jegliche Hoffnungen auf ein würdiges Leben in der Heimat seiner Eltern und Großeltern machten der deutsche Überfall auf Polen und die gnadenlose Verfolgung der jüdischen Bevölkerung zunichte. Im November 1940 wurden er und seine spätere Frau Teofila (Tosia) gezwungen, ins Warschauer Ghetto zu ziehen. Sie gehörten später zu den wenigen Überlebenden der Schoa in Polen, große Teile ihrer Familien wurden ermordet. Auch für die allermeisten Opfer der „Polenaktion“ folgten weitere Deportationen in Ghettos oder Vernichtungslager. Deutschland stünde es gut an, dieser Menschen, die als polnische Staatsbürger häufig tief in der deutschen Gesellschaft verwurzelt waren, künftig angemessen zu gedenken.

Über das Thema ihres Artikels spricht Gertrud Pickhan, Professorin für die Geschichte Ostmitteleuropas an der FU Berlin, am Donnerstag, dem 24. Oktober, an der Humboldt-Universität. In der Veranstaltung des Zentrums Jüdische Studien anlässlich des 75. Jahrestages der „Polenaktion“ wird ab 18.30 Uhr im Hörsaal in der Dorotheenstraße 26 unter anderem auch das polnische Projekt Zbaszyn 1938 präsentiert.

Gertrud Pickhan

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