zum Hauptinhalt
Im Labyrinth des Ich. Wir erleben uns selbst als "ganz", als homogene Persönlichkeit. Aber das ist eine Illusion des Gehirns, sagen Forscher.

© imago/Ikon Images

Alles fake, auch das "Ich": Das Ich ist nur eine Illusion

Das Gehirn erzeugt nicht nur unser Bild von der Außenwelt, sondern auch unsere Vorstellung von uns selbst. Und die ist ein Trugbild. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Hartmut Wewetzer

Sie sitzen jetzt hoffentlich beim Frühstück und lassen sich, während Sie einen Blick in die Zeitung werfen, Ihr Frühstücksei schmecken. Gut gewürzt mit einer Prise Salz. Dazu der frisch gebrühte Kaffee, dessen aromatischer Duft Ihnen in die Nase steigt. Der erste Schluck schmeckt am besten, finde ich immer.

Aber es gibt da ein kleines Problem. Denn da ist streng genommen nichts, was duftet oder schmeckt. Weder das Ei noch der Kaffee haben einen absoluten Eigengeschmack. Der entsteht erst in Ihrem Kopf. Die Welt da draußen ist komplett fade und geruchlos. Sie hat auch keine Farbe, macht kein Geräusch, ist nicht rau oder glatt, heiß oder kalt. Erst ihr Gehirn verleiht der Welt – mit Hilfe der Sinne – Sinnlichkeit. Es ist ziemlich kreativ darin, Ihnen so etwas wie eine bunte, duftende, lärmende Umwelt vorzugaukeln. Das, was wir als Realität ansehen, ist in Wirklichkeit eine Konstruktion des Gehirns.

Nirgendwo wird das deutlicher als bei optischen Täuschungen. Eine Fülle von verblüffenden Beispielen zeigt, wie das Gehirn sich hinters Licht führen lässt. Seine Kulissen erscheinen plausibel, aber sie sind es nicht. Wenn wir erkennen, dass wir getäuscht wurden, ist das so, als ob sich ein Riss in der Realität auftut. Nichts ist so, wie es scheint.

Indiz der Täuschung: Der blinde Fleck

Ein bekanntes Beispiel ist der blinde Fleck, eine Stelle im Sehfeld des Auges, die von Natur aus „blind“ ist, weil hier der Sehnerv in die Schädelhöhle eintritt. Das Gehirn kaschiert die Lücke in der Netzhaut-Tapete, indem es scheinbar das Muster der Umgebung darüberlegt. Das „Loch“ in der Wahrnehmung bleibt unbemerkt, die Realität wohlgeordnet.

Ein einfacher Test mit einem Blatt Papier bringt das ans Tageslicht. Zunächst zeichnet man auf die linke Seite einen kleinen Kreis und auf die rechte ein Kreuz. Dann schließt man das linke Auge und blickt mit dem rechten auf den Kreis. Wenn man sich dann dem Kreis nähert, wird das Kreuz irgendwann verschwinden, weil es im blinden Fleck gelandet ist.

Die Aufbauleistung des Gehirns geht noch weiter. Nicht nur die äußere, auch die innere Wahrnehmung ist sein Produkt. Hier funktioniert die Täuschung fast noch perfekter, denn von der realen Existenz ihres Ichs sind die meisten Menschen völlig überzeugt. Doch es gibt kein unantastbares, unveränderliches „Ich“ im Gehirn, das in einer Art Schatulle irgendwo aufbewahrt wird oder als kleiner Betrachter unablässig das Kopfkino genießt.

Die Geschichten spinnen uns, nicht wir sie

Das Ich wird von Netzwerken aus elektrisch erregten Nervenzellen permanent erzeugt. Es setzt sich aus einer Vielzahl unbewusster Mechanismen und Prozesse zusammen, sagt der britische Psychologe Bruce Hood, Autor des Buchs „The Self Illusion“ („Die Illusion des Selbst“). Man könnte sagen: Das Ich sind viele. Es ist schwierig, den Kern des Selbst richtig zu begreifen, ihm auf die Spur zu kommen. Von einem Spinnennetz ohne Spinne spricht Hood. Der amerikanische Philosoph Daniel Dennett hat das Problem mit einem fast poetischen Bild beschrieben: „Unsere Geschichten sind ersponnen, aber zum größten Teil haben nicht wir sie gesponnen, sondern sie uns.“ Die Wirklichkeit und ihr Betrachter, der Schauspieler und sein Publikum, der Spiegel und das Gespiegelte: Im Kopf sind sie eins.

Zugegeben, das ist schwer zu schlucken, erst recht am Frühstückstisch! Aber ich habe Trost parat. Zum einen: Es gibt die Realität da draußen natürlich durchaus. Die Welt und unser Ich existieren. Aber sie sind eben anders beschaffen, als man auf den ersten Blick glauben mag. Wir haben keinen direkten Zugang zur Realität. So kann das Auge aus dem riesigen Spektrum der elektromagnetischen Wellen nur jene zwischen 400 und 800 Nanometer wahrnehmen. Das ist ein klitzekleiner Sehschlitz, aber unser wichtigstes Fenster zur Welt.

Was das Gehirn konstruiert, dient dem Überleben

Wie wir die Umwelt und uns selbst wahrnehmen, ist geprägt von der Evolution. Ihre Maßstäbe sind Überleben und Vermehrung, nicht die perfekte Abbildung des physischen und psychischen Kosmos. Das Bild von der Welt und von uns selbst, das das Gehirn entwirft, ist alles andere als vollkommen. Aber es hat seinen Zweck bislang recht gut erfüllt.

Der Blick hinter die Kulissen enthüllt die Ich-Illusion. Dennoch, wir können sie nicht ablegen wie ein Theaterkostüm. Diese Rolle spielen wir ein Leben lang. Ansonsten würden wir uns selbst verlieren. Doch die Selbsterkenntnis ist ein Schritt nach vorn bei der Reise zum wahren Ich. Bis wir am Ziel sind, gilt es, gelassen zu bleiben. Und das Frühstück zu genießen.

Zur Startseite