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Abstieg. Mit Sozialdaten aus 30 Jahren lassen sich 22 000 Bildungsbiografien verfolgen. Ein Ergebnis: Die Schule kann soziale Prägungen kaum ausgleichen. Zudem fällt die junge Generation heute gegenüber Älteren beim Sozialstatus zurück.

© Doris Spiekermann-Klaas

Analyse des "Sozio-oekonomischen Panels": Kindern und Enkeln geht es schlechter

Mobilität nach unten: Die deutsche Gesellschaft wird weniger durchlässig und gerecht. Das zeigen die Daten des "Sozio-oekonomischen Panels" (SOEP). der ältesten Langzeitstudie der Welt.

Der Großvater war noch ein Fabrikarbeiter, die Großmutter ein ungelerntes Dienstmädchen. Die Kinder schafften schon die mittlere Reife und arbeiteten später als Angestellte. Die Enkel und Enkelinnen haben es noch weiter gebracht: Sie konnten studieren, rückten in Führungsetagen auf oder gründeten sogar eigene Unternehmen. – So oder ähnlich klingt sie, die typische deutsche Familiengeschichte des 20. Jahrhunderts. Der stetige soziale Aufstieg war zwar nicht programmiert, aber im Westdeutschland der Nachkriegsjahre durchaus möglich. Wirtschaftliche Entwicklung, steigende Löhne, höhere Bildungsabschlüsse begünstigten den Trend. „Intergenerationale Mobilität“ nennen Soziologen das Phänomen.

Doch wie stellt sich die Situation im 21. Jahrhundert dar? Leben wir in einem Land, in dem es theoretisch immer noch jeder vom Arbeiterkind zum Professor bringen kann? Und wenn ja, welcher Teil einer Generation schafft den Aufstieg? Wer tritt auf der Stelle? Und wer bleibt aufgrund seiner Herkunft chancenlos zurück? Um solche Fragen differenziert beantworten zu können, braucht man vor allem eins: sehr viele Daten. Diese müssen über einen langen Zeitraum von möglichst vielen Menschen, deren Kindern und Kindeskindern erhoben werden. Genau das liefert das „Sozio-oekonomische Panel“ (SOEP), das am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) angesiedelt ist. 1983 ins Leben gerufen, ist das SOEP heute eine der größten und ältesten Langzeitstudien der Welt. Über 22 000 Teilnehmer aus rund 11 000 Haushalten werden jedes Jahr nach Einkommen, Erwerbstätigkeit, Bildung und Gesundheit befragt.

Die SOEP-Daten liefern noch keine Interpretationen mit. Aber sie dienen Forschern aus aller Welt als Ausgangsmaterial für sozialwissenschaftliche, psychologische, wirtschaftswissenschaftliche Studien. Seit kurzer Zeit kann dabei auch die soziale Durchlässigkeit der deutschen Gesellschaft genauer unter die Lupe genommen werden. Kürzlich hatte das SOEP in Berlin zur Jahrestagung eingeladen, wichtigstes Thema war die intergenerationale Mobilität.

Die ersten empirischen Ergebnisse nach 30 Jahren

„Wir haben jetzt, nach rund 30 Jahren, erste empirische Ergebnisse, ob es den Kindern besser geht als ihren Eltern“, erklärt Jürgen Schupp, Direktor des SOEP. Denn nach drei Jahrzehnten ausgiebiger Familienbefragungen weiß man nun, wie sich der jeweilige Nachwuchs einer Familie langfristig beruflich entwickelt hat. Erstmals können die Lebensumstände der Eltern direkt mit denen ihrer Kinder in Verbindung gesetzt werden.

Die Zahlen bestätigen, was Politik und Öffentlichkeit ohnehin längst ahnen: dass es in Deutschland einen sehr engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und späteren Aufstiegschancen gibt. Die Schule kann familiäre Einflüsse teilweise kompensieren, aber die zentralen Weichen werden lange vor Beginn der Schulzeit gestellt. „Wie Menschen sich entwickeln, wird in der Familie in der frühen Kindheit geprägt“, sagt Schupp. Das Fundament der kognitiven und sozial-emotionalen Fähigkeiten, das hier gelegt (oder auch nicht gelegt) wird, wirkt lebenslang nach.

Und das nicht nur von einer Generation zur nächsten, sondern sogar zur übernächsten. Guido Neidhöfer und Maximilian Stockhausen, Nachwuchswissenschaftler der Freien Universität, haben die SOEP-Daten genutzt, um die langfristige Bildungsmobilität in Deutschland im Vergleich zu den USA und Großbritannien zu untersuchen. „Wir fanden heraus, dass die Bildungsmobilität über einen längeren Zeitraum in Deutschland deutlich geringer ist als in den beiden anderen Ländern“, sagt Neidhöfer. Wenn man die Jahrgänge der 1960 bis 1985 Geborenen betrachtet, dann haben nur 20 Prozent derjenigen, deren Großeltern noch ein niedriges Bildungsniveau aufweisen, einen veritablen Bildungsaufstieg hingelegt. In den USA schafften 23 Prozent den Bildungsaufstieg über zwei Generationen, in Großbritannien waren es sogar 31 Prozent.

Wer aus einer bildungsfernen Schicht kommt, hat weniger Chancen

Die Ergebnisse, die Neidhöfer selbst „erschreckend“ nennt, knüpfen nahtlos an eine andere düstere Zahl an. Schon 2013 hatte Wirtschaftswissenschaftler Daniel Schmitzlein anhand der SOEP-Daten nachgewiesen, dass sich 40 Prozent der Ungleichheit beim individuellen Arbeitseinkommen durch den Familienhintergrund erklären lassen. Beim Bildungserfolg ist der Faktor sogar noch größer: 66 Prozent der Ungleichheit bei Bildungsabschlüssen gehen in Deutschland auf familiäre Einflüsse zurück. Anders gesagt: Wer aus einer bildungsfernen Schicht kommt, studiert nicht nur deutlich seltener, sondern verdient meist lebenslang auch weniger – und hat somit definitiv nicht die gleichen Chancen wie andere seines Jahrgangs. Und anders als etwa in Dänemark gleicht das deutsche Bildungssystem die unterschiedlichen biografischen Startbedingungen kaum aus.

Aber nicht nur die deutsche Gesellschaft ist seit den 1970er Jahren undurchlässiger und ungerechter geworden. Der negative Trend lässt sich auch für andere westliche Staaten nachweisen. Richard Breen, Soziologieprofessor an der University of Oxford und einer der bekanntesten Mobilitätsforscher weltweit, hat die Geburtenjahrgänge von 1930 bis 1975 in mehreren europäischen Ländern untersucht. Er betrachtete die jeweiligen Bildungsabschlüsse, die die Befragten bis Mitte 20 erworben hatten – und verglich dann, wo die gleiche Person zwanzig Jahre später, mit Mitte 40, beruflich angekommen war.

"Die soziale Mobilität stirbt aus"

Warum dieser große Zeitsprung? Breen argumentiert, dass es in der Regel nach der Ausbildung einige Jahre dauert, bis sichtbar wird, wie und wohin sich berufliche Wege entwickeln. Während es bei vielen 30-Jährigen noch so wirkt, als wäre soziale Mobilität in großem Umfang möglich, verflüchtigt sich diese scheinbare Wahlfreiheit mit jedem weiteren Lebensjahr. Spätestens mit Anfang 40 ist man von den eigenen Wurzeln eingeholt worden. Und werde dann geradezu „festgenagelt“ von ihnen, sagt Breen. Vor allem für die Jahrgänge ab 1960 sieht Breen schwarz: „Die social fluidity stirbt aus.“

Wo die genauen Ursachen für die zunehmende Chancenungleichheit liegen, darüber können Soziologen bisher nur spekulieren. Untersuchungen zu den Mikromechanismen in den jeweiligen Ländern stehen noch aus. Die Vermutung liegt nahe, dass in Deutschland unter anderem das mehrgliedrige Schulsystem, bei dem leistungsschwächere Kinder aus bildungsfernen Familien früh von ihren leistungsstarken Klassenkameraden separiert werden, zur Ungerechtigkeit beiträgt.

Aber auch fehlende Infrastrukturangebote in den ersten Lebensjahren könnten eine mögliche Ursache sein. Für SOEP-Leiter Jürgen Schupp ist jedenfalls klar: Eine breit angelegte staatliche Förderung von familiär benachteiligten Kindern muss so früh wie möglich einsetzen. „Es gibt bestimmte soziale Gruppen, die wir auch identifizieren können, bei denen besonderer Handlungsbedarf besteht.“

Denn dass Talente lebenslang unentdeckt bleiben, nur weil in den ersten Lebensjahren die kindliche Entfaltung nicht ausreichend gefördert wurde, das können sich die alternden westlichen Gesellschaft schlicht nicht mehr leisten. Für Schupp geht die SOEP-Erhebung daher mit einen ausdrücklichen politischen Auftrag einher: „Wir sehen es als unsere Aufgabe an, den Ursachen für soziale Ungleichheit nachzugehen und uns mithilfe der Daten in aktuelle Debatten einzumischen.“

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