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Denisova-Höhle

© Bence Viola

Anthropologie: Neandertaler waren nicht wählerisch

Bei der Partnerwahl kannten Neandertaler anscheinend kaum Tabus. Nicht nur nahe Verwandte wie Halbgeschwister zeugten miteinander Kinder. Teilweise gehörten Elternteile zu verschiedenen Menschenlinien.

Das schließen Kay Prüfer vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und seine Kollegen aus dem Erbgut einer Neandertaler-Frau, deren Zehenknochen im Altai-Gebirge gefunden wurde. Der 2,6 Zentimeter lange Knochen lag etwa 50 000 Jahre in der zentralasiatischen Denisova-Höhle und ist relativ gut erhalten.

Eigentlich hatten die Forscher damit gerechnet, dass der Knochen von einem Denisova-Menschen stammt – ähnlich wie ein Fingerknochen, den das Team um Svante Pääbo bereits untersucht und damit eine bisher unbekannte Linie der Frühmenschen entdeckt hatte. Diese „Denisovaner“ waren näher mit den Neandertalern als mit den modernen Menschen verwandt. Auch ihr Erbgut haben die Leipziger genau entschlüsselt. „Die Frau gehörte aber zu den Neandertalern“, sagt Prüfer. Dank dieses Fundes und der Sequenziertechniken, die sie entwickelt haben, konnte sein Team erstmals fossile Neandertaler-DNS so genau analysieren wie das Erbgut heutiger Menschen. Sie überprüften jeden Baustein rund 50 Mal, schreiben sie im Fachblatt „Nature“.

Diese Präzision erlaubte ihnen einen Blick auf die Verwandtschaftsverhältnisse der Frühmenschen. Demnach gehen Neandertaler und Denisovaner auf der einen Seite und die Vorfahren des modernen Menschen auf der anderen Seite seit 550 000 bis 765 000 Jahren eigene Wege. Denisovaner und Neandertaler dagegen trennten sich erst vor 381 000 bis 473 000 Jahren. Besonders strikt war diese Trennung allerdings nicht. 1,5 bis 2,1 Prozent des Erbguts heute außerhalb Afrikas lebender Menschen sind typisch für Neandertaler. In der DNS der Menschen auf dem asiatischen Festland und amerikanischer Ureinwohner finden sich 0,2 Prozent Erbgut der Denisovaner. Diese wiederum hatten 0,5 Prozent Neandertaler-Erbgut in ihren Zellen. Solche Zahlen lassen nur eine Schlussfolgerung zu: Frauen und Männer der unterschiedlichen Gruppen hatten gemeinsame Kinder, die ihr Erbgut dann in den jeweiligen Linien der Denisovaner, Neandertaler und modernen Menschen weitergaben.

Das Erbgut, das die Forscher aus dem Zehenknochen gewannen, erzählt noch eine weitere Geschichte: Die Eltern der Neandertaler-Frau waren nahe Verwandte: etwa Onkel und Nichte, Großvater und Enkelin oder Halbgeschwister mit der gleichen Mutter. Vermutlich waren solche Beziehungen damals nicht selten, schreiben die Forscher. Schließlich gab es nur sehr wenige Denisovaner und Neandertaler – auch das zeigt das Erbgut. Die Auswahl war also nicht allzu groß.

Außerdem gab es noch eine vierte Gruppe: „2,7 bis 5,8 Prozent der DNS der Denisovaner stammt von einer sehr alten Frühmenschengruppe“, sagt Prüfer. Diese ging seit etwa 900 000 bis vier Millionen Jahren eigene Wege. Ob es sich dabei um Homo erectus handelt, ist bisher Spekulation. Den modernen Menschen trennen nur rund 30 000 DNS-Bausteine von Denisovanern und Neandertalern. „Das sind ganze 87 Proteine“, sagt Prüfer. Vielleicht haben sie es uns ermöglicht, die heutige Zivilisation aufzubauen? Die Leipziger jedenfalls forschen weiter.

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