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Tückisch. Über die Folgen von Antibiotika-Resistenzen gibt es keine seriösen Hochrechnungen.

© Daniel Karmann, picture alliance / dpa

Antibiotikaresistenzen: Die Mär von den zehn Millionen Toten

Multiresistente Keime sind eine große Gefahr – doch wie viele Leben sie in Zukunft tatsächlich kosten werden, kann niemand prognostizieren.

Die Schlagzeilen klingen alarmierend. „Millionen Tote durch multiresistente Keime möglich“, titelte „Welt.de“. „Resistente Keime bald gefährlicher als Krebs“, lautete eine Überschrift bei „Spiegel Online“. Die BBC forderte eine „Revolution“, um resistente Keime abzuwehren. Das Problem: Es ist extrem schwer zu berechnen, wie groß die Gefahr tatsächlich ist.

2014 veröffentlichte ein von der britischen Regierung beauftragtes Gremium seinen Bericht „Review on Antimicrobial Resistance“. Die Kommission sagte voraus, dass ab 2050 weltweit jedes Jahr rund zehn Millionen Menschen an resistenten Erregern sterben können. Der Bericht wirkt seriös, zugleich ist er gut lesbar – er findet seinen Weg in Zeitungen, Parlamente und Forschungsanträge. Die UN zitiert die Zahl, die europäische Kommission, die G7, die Grünen und schließlich der deutsche Gesundheitsminister. Sie steht inzwischen überall.

Ein Missverständnis schürt die Panik

Wie stichhaltig die alarmierende Prognose ist, hat nun ein Team um die Infektionsforscherin Marlieke de Kraker vom Uniklinikum Genf untersucht. Die Vorhersage hält einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand und dass die Zahl maßlos übertrieben ist, zeigt die Analyse im Fachblatt „Plos Medicine“. Der Grund sind ein Missverständnis und drei Fehler. Die Prognose von zehn Millionen bezieht sich auf Opfer resistenter, also nicht mit Medikamenten behandelbarer Keime. Dazu gehören neben den Erregern mit Antibiotikaresistenzen auch resistente Viren wie HIV oder die Parasiten, die Malaria verursachen. Das Detail geht in der Berichterstattung oft unter.

Fehler Nummer eins: Die Kerndaten sind falsch

Um die Häufigkeit resistenter Keime zu ermitteln, verwenden die Briten Zahlen aus dem europaweiten Netzwerk EARS, in dem resistente Keime gemeldet werden. Doch an diesem Netzwerk sind vor allem große Kliniken beteiligt, in diesen werden wiederum überdurchschnittlich viel schwere Infektionen behandelt. Man darf davon also nicht auf Infektionen schließen, die ein Hausarzt therapiert, oder auf alle europäischen Krankenhäuser – schon gar nicht jene in wenig entwickelten Ländern. Die Studie macht genau diesen Fehler: Sie tut so, als seien die Resistenzquoten der weltweite Maßstab.

Fehler Nummer zwei: Wie tödlich sind resistente Keime?

Angenommen, es sterben 2000 Patienten am resistenten „Krankenhauskeim“ Staphylococcus aureus (MRSA) und 1000 Patienten an einem „gewöhnlichen“ Staphylococcus aureus-Erreger. Dann könnte man meinen, dass die Tödlichkeit des resistenten Keims doppelt so hoch sei. Diese Annahme machen die Briten – und auch sie ist falsch. Denn die beiden Patientengruppen unterscheiden sich. Die 2000 MRSA-Toten sind im Schnitt älter und damit anfälliger als jene 1000, die sich mit dem gewöhnlichen Keim infiziert haben. Nur wenige Studien berücksichtigen den Faktor, wie unterschiedlich die jeweiligen Patienten sind. Sie ergeben eine deutlich niedrigere Sterblichkeit durch resistente Keime. Die Briten rechnen außerdem hoch, dass heute weltweit rund 700 000 Menschen an resistenten Erregern sterben, vor allem an resistenten Tuberkulose-, Malaria-, HIV- und drei bakteriellen Erregern. Auch diese Zahl dürfte übertrieben sein.

Fehler Nummer drei: Die Prognose

Für ihre Hochrechnung von zehn Millionen Toten pro Jahr ab dem Jahr 2050 gehen die Autoren der britischen Studie davon aus, dass Keime in Zukunft deutlich mehr Resistenzen entwickeln werden. Sie rechnen mit einer Steigerung um 40 Prozentpunkte. Das wäre für einen Keim, der heute zu zehn Prozent unempfindlich ist, eine Verfünffachung der Resistenz. Zudem soll sich in diesem Szenario die Ansteckungsrate verdoppeln. Auch das ist schwer nachvollziehbar, wird doch die Hygiene weltweit besser. Die dritte Annahme: Die Sterblichkeit bleibt gleich. Das trifft aber nur zu, wenn die Medizin bis 2050 keine substanziellen Fortschritte macht.

Fazit: Hochgradig unseriös

So wissenschaftlich die Studie daherkommt, so unwissenschaftlich sind ihre Methodik und Entstehung. Hinter der Prognose stehen die beiden Beratungsfirmen Rand und KPMG. Sie haben die Szenarien entwickelt und sie dem Expertengremium unter der Leitung des britischen Ökonomen Lord Jim O'Neill präsentiert. Veröffentlicht ein Forscher eine Studie, wird sie ihn auf Jahre hinaus begleiten. Werden deren Ergebnisse kritisiert, muss er sich rechtfertigen. Die Autoren der alarmistischen britischen Studie sind jedoch nicht Teil des Wissenschaftsbetriebs und beschäftigen sich längst mit anderen Themen. Lord Jim O'Neill war von „Correctiv“ für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

Mit anderen Worten: Es ist unwahrscheinlich, dass ab 2050 jährlich zehn Millionen Menschen an resistenten Keimen sterben. Die Zahl gehört eingemottet. Das bedeutet freilich nicht, dass die Erreger harmlos wären. Sie sind eine große Bedrohung – auch ohne Übertreibung.

Die Reaktionen

„Wir kriegen nur positive Rückmeldungen auf unser Paper“, sagt Marlieke de Kraker, die Forscherin aus Genf. Viele Forscher hatten ob der britischen Studie Bauchschmerzen – und sind dankbar, dass nun jemand den Unsinn widerlegt. Auch Petra Gastmeier, Hygienikerin an der Charité, begrüßt die Arbeit. „Die Autoren haben die Fehler der Briten Schritt für Schritt aufgezeigt“, sagt sie. Wobei sie und ihre Kollegen die Zahl der Toten ohnehin nie ernst genommen hätten. „Das ist aus der Luft gegriffen“, sagt sie.

Doch warum wird die Zahl dann so oft verwendet, nicht nur von Journalisten, Politikern und Aktivisten, sondern auch in unzähligen wissenschaftlichen Papers, in Förderanträgen und auf Konferenzen? Warum hat es mehr als zwei Jahre gedauert, ehe die Hochrechnung jetzt auseinander genommen wurde? Weil auch ernsthafte Forscher von der Übertreibung profitiert haben. „Wenn ich einen Förderantrag über Antibiotikaforschung bewilligt bekommen will, will ich eine höhere Anzahl von Toten“, sagt Petra Gastmeier von der Charité. Sie habe aber die Zahl nie selbst in einen Antrag geschrieben.

Zudem handelt es sich bisher um die einzige konkrete Schätzung. Fragt man Gastmeier oder de Kraker nach einer genaueren Prognose, weigern sich beide, eine Zahl zu nennen – eben weil es zu wenig Daten und zu viele Unsicherheiten gibt. Als Forscherinnen beharren sie darauf, nur seriöse Hochrechnungen zu machen. Diese seien derzeit nicht möglich. So geistern die zehn Millionen Toten konkurrenzlos durch die Medien.

Zu früh für eine vielschichtige Debatte

„Wer warnt, hat immer recht“, sagt Markus Lehmkuhl, Kommunikationsforscher am Karlsruher Institut für Technologie. Wer zu früh Entwarnung gebe, mache sich angreifbar, sollte es doch schlimmer kommen. Lehmkuhl erforscht seit Jahren, wie über Antibiotikaresistenz geredet und berichtet wird – nämlich von Anfang an mit einem alarmistischen Unterton. Das liege vor allem daran, dass das Thema in der Bevölkerung zu wenig bekannt sei, sagt Lehmkuhl. Deswegen habe sich noch keine vielschichtige Debatte entwickelt. Anders als beim Klimawandel.

- Die Autoren sind Redakteure des Recherchezentrums „Correctiv“, mit dem unsere Zeitung kooperiert. „Correctiv“ finanziert sich ausschließlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Ihr Anspruch: Mit gründlicher Recherche Missstände aufzudecken und unvoreingenommen darüber zu berichten. Wenn Sie das unterstützen möchten, können Sie Fördermitglied werden: www.correctiv.org

Hristio Boytchev, Victoria Parsons

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