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Archäologie ohne Spaten. Der Göttinger Archäologe Johannes Bergemann gräbt nicht, er sammelt auf freien Feldern jede antike Scherbe auf.

© J. Bergemann/Uni Göttingen

Archäologie: Die Griechen kommen

Die "griechische Westkolonisation" begann mit dem 8. Jahrhundert v. Chr. Wirtschaftsflüchtlinge in der Antike: Ein deutscher Archäologe erforscht die Kolonisation Siziliens.

Wer sich bückt, der findet: Archäologen der Universität Göttingen haben auf Sizilien eine bislang unbekannte große Höhensiedlung und 200 kleinere Siedlungsstellen aus dem ersten vorchristlichen Jahrtausend aufgespürt. Allein durch das sorgfältige Absuchen der Oberfläche haben sie massenhaft Zeugnisse griechischer Einwanderer und einheimischer Sikaner vor gut 2500 Jahren gefunden. Bei dieser „Survey“ genannten archäologischen Methode suchen meist studentische Mitarbeiter in rückenstrapazierender Bückarbeit Areale von 100 mal 100 Metern ab und sammeln alles ein, was von Menschenhand stammt – und antik ist.

Aus einem solchen Quadrat können leicht 10 000 Keramikscherben, Architekturreste oder Ziegelfragmente zusammenkommen. Bodenerosion und Bodenbearbeitung zaubern immer wieder neue alte Stücke aus der Erde und erzählen dem Kundigen von früheren Zeiten. „Damit können wir die Siedlungsgeschichte einer ganzen Region nachzeichnen“, charakterisiert Johannes Bergemann diese spatenlose Archäologie.

Der Archäologie-Professor der Universität Göttingen will mit Unterstützung der Gerda-Henkel-Stiftung in den nächsten zwei Jahren eine 300 Quadratkilometer große Siedlungskammer im Hinterland von Agrigent erkunden. Die ersten Befunde sind vielversprechend: Von dem bislang unbekannten indigenen Zentrum auf einem dominanten Kegelberg führten in der Antike Straßen zu benachbarten Siedlungen und zur Küste, wo sich die Griechen festgesetzt hatten. Fundstellen entlang dieser Straßen belegen einen kulturellen Kontakt und Austausch der beiden Bevölkerungen. Kleine Tempel an markanten Punkten der Landschaft waren dabei nicht nur sakrale Orte, sondern immer auch Kommunikationsdrehscheibe für Einheimische und Einwanderer.

Johannes Bergemann hat Erfahrung mit der Archäologie ohne Spaten, er hat sie perfektioniert. In den letzten Jahren zeichnete er, damals noch für die Universität Bochum, mit dieser Methode die griechische Kolonisation im Raum der Hafenstadt Gela an der Südostküste Siziliens nach. Sein Fazit: „Die Kolonisation um Gela ist friedlich verlaufen. Es gab keine Ausrottung der einheimischen Bevölkerung.“ Das ist durchaus verwunderlich, denn die Griechen kamen massenhaft. „Das war schon eine kleine Völkerwanderung“, sagt Bergemann.

Nachdem die Griechen ab etwa 1100 v. Chr. erfolgreich die Westküste Kleinasiens kolonisiert hatten, begann die „griechische Westkolonisation“ mit dem 8. Jahrhundert v. Chr. In Griechenland wurde der Boden knapp, die Bevölkerung wuchs, bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen verschärften die Situation. Knapp 200 Jahre floss der Auswandererstrom gen Westen, den Pionieren folgten Nachzügler in die bald prosperierenden Kolonien. Die erste Griechen-Gründung in Italien war Pithekussai in der Bucht von Neapel im Jahr 770 v. Chr. Nach 200 Jahren waren die Ost- und Westküste Süditaliens und Sizilien dicht an dicht mit griechischen Siedlungen bestückt. Auch auf Korsika, Sardinien und an der französischen Küste um Marseille bauten Griechen ihre Gehöfte.

Dieses „Magna Graecia“, Großgriechenland, war kein homogenes Reich, die Stadtstaaten waren jedoch durch ihre einheitliche Kunst und Kultur geprägt. Die Erzlagerstätten, die Fruchtbarkeit der Böden und die den Fernhandel kontrollierende Lage der sizilianischen Griechenstädte machten die Auswanderer reich. Innerhalb relativ kurzer Zeit überholten die Kolonien ihre Heimatstädte in vielen Bereichen. Süditalien und Sizilien haben heute mehr griechische Tempel, Heiligtümer und Wehranlagen als die alte Heimat.

Gela wurde im Zuge dieser Westkolonisation 688 v. Chr. von einer Schiffsladung Kreter und Rhodier gegründet. Die Wirtschaftsflüchtlinge, so kann Bergemann anhand seiner Scherbenfunde nachweisen, kamen in einen leeren Küstenstreifen. Die Einheimischen wohnten rund 20 Kilometer entfernt in der Höhensiedlung Butera. Den Einwanderern aus den dicht besiedelten griechischen Gebieten muss die weite Ebene „wie das Paradies erschienen sein“, glaubt der Archäologe. Dennoch waren die Anfänge wohl hart: „Die ersten Griechen haben da mehr vegetiert als existiert. Von den frühen Siedlungsplätzen sind etliche wieder aufgegeben worden, die Entwicklung verlief nicht ohne Krisen.“

Bergemanns Beweisführung für die friedliche Kolonisierung um Gela beginnt banal: Webgewichte, Mahlsteinfragmente, ein 20 Zentimeter großes tönernes Henkelstück. Der Experte aber liest daraus: Die Neuankömmlinge hielten Schafe und fertigten aus deren Wolle ihre Kleider, sie bauten Getreide an und lagerten ihre Vorräte in großen Tongefäßen. Zwei Ölpressen erzählen von Olivenhainen und Ölherstellung. Eine Säulentrommel im Gelände signalisiert: Hier stand ein Heiligtum. 277 Siedlungsstellen hat Bergemann in den 250 Quadratkilometern um Gela dingfest gemacht, an die 100 davon sind typisch griechische Gehöfte.

Die Hafenstadt Gela lag in Sichtweite von Butera, der einheimischen Siedlung. Die Griechen blieben also nicht unbemerkt, sie mussten Kontakt mit ihren neuen Nachbarn aufnehmen – friedlich oder gewaltsam. Bergemanns Survey-Sammlung ergibt: In Butera gibt es keine Hinweise auf Zerstörungen und Gela hatte in der Gründungsphase keine Wehrmauer. Die griechischen Bauernhöfe – verstreute Familienbetriebe mit Sklaven – wucherten von der Küstenebene ins Landesinnere Richtung Butera. „Die wären bei einer Auseinandersetzung gar nicht zu verteidigen gewesen.“

Es war wohl ein geregeltes Neben- und Miteinander, die griechische Lebensweise galt offenbar als nachahmenswert: Die Einheimischen bestatteten, als sie noch allein auf der Insel waren, ihre Toten in Felsgräbern mit umfangreichen Beigaben. Schon 100 Jahre später hatten sie sich dem bescheideneren griechischen Bestattungsritus angepasst. Wohnten die Alt-Sizilianer in Rundhütten in geschlossenen Ortschaften, übernahmen sie bald die rechteckigen Häuser der Zuwanderer und die dezentrale Ansiedlung in Gehöften. Im 5. Jahrhundert v. Chr. – also etwa 150 bis 200 Jahre nach Ankunft der Griechen – tranken die Einheimischen ihren Wein durchweg aus griechischem Geschirr und schrieben ihre Namen auf Griechisch in die Trinkschalen. Aus alledem liest Bergemann „eine Lebens- und Wirtschaftsweise, in der Kolonisten und Einheimische in einer wechselseitigen Abhängigkeit lebten“. Im 4. Jahrhundert v. Chr. seien die beiden Siedlungsgebiete kaum noch zu unterscheiden.

Im neuen Untersuchungsgebiet bei Agrigent sieht es bislang anders aus: Bei den ersten Surveys entdeckten die Scherbensammler viel indigene, aber nur geringe Mengen hellenischer Keramik; die charakteristischen Dachziegel griechischer Bauernhäuser fehlen. Es handelt sich offenbar um eine andere Siedlungsstruktur als in Gela. Die Einheimischen lebten eher in Zentralorten, meist auf Berghöhen, und nicht in großen bäuerlichen Gehöften wie die Griechen, glaubt Bergemann. Wie sich in Zentralsizilien das Miteinander der beiden Gruppen gestaltet hat, ist Thema der kommenden Kampagnen – auch hier wieder ohne Spaten.

Eine Frage treibt den Göttinger Archäologen bei seiner Suche nach den Mechanismen der Kolonisation besonders um: „Die Einheimischen wurden immer griechischer – aber was passierte mit den Griechen?“

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