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Markus Hilgert sitzt vor seinem Tablettcomputer und hält eine antike Tontafel in der Hand.

© Mike Wolff

Archäologie und Textwissenschaft: Frühes Lesen auf der Agora

Der Heidelberger Assyriologe Markus Hilgert und sein Team versuchen, alten Texten ihre Entstehungs- und Nutzungsgeschichte zu entlocken. Hilgert wechselt im Frühjahr 2014 nach Berlin, wird Direktor des Vorderasiatischen Museums.

Was hat eine Tontafel mit Keilschrift aus dem 2. Jahrtausend vor Christus mit einer mittelalterlichen Handschrift und den 25 Millionen in Stein gemeißelten chinesischen Schriftzeichen des Wolkenheimklosters bei Peking gemeinsam? Es sind Artefakte aus Gesellschaften, in denen Schrift nicht zum Alltag gehörte wie zu unserer Zeit, wo einen an jeder Ecke Reklametafeln, Leuchtreklamen, Straßennamen und andere schriftliche Kulturzeugnisse umgeben.

Zu den Tontafeln, Handschriften und Schriftzeichen hatten wohl meist nur wenige Prozent der damaligen Gesellschaften Zugang, Menschen, die lesen und schreiben konnten. Um diese Texte zu verstehen, reicht es nach Ansicht des Assyriologen Markus Hilgert nicht mehr aus, die Schrift zu entziffern, zu übersetzen und den gewonnenen Text zu veröffentlichen, wie es bisher die klassischen Textwissenschaften der Altertumskunde getan haben. „Entscheidend ist doch die Frage: Wie kann ich die Bedeutung von Geschriebenem herausfinden, wenn es nur an einem Ort und für wenige zu sehen ist?“, sagt Hilgert, noch Professor an der Universität Heidelberg und designierter Direktor des Vorderasiatischen Museums in Berlin. Er ist auch Sprecher des von ihm initiierten Sonderforschungsbereichs (SFB) „Materiale Textkulturen“ an der Heidelberger Uni.

Erzählte man sich das Gilgamesch-Epos am Lagerfeuer?

„Ist das Gilgamesch-Epos gesamtgesellschaftlich relevant? Erzählte eine Mutter es ihren spielenden Kindern, erzählte man es sich an den Lagerfeuern der Karawanen? Oder ist es ein sprachliches Kunstwerk, das – wie heute etwa Ulysses von James Joyce – nur von einer Elite gelesen wurde?“ An diesem Beispiel zeigt Hilgert, wie komplex die Rezeption von Texten ist, die keinen Urtext im neuzeitlichen Sinn kennen, sondern nur in Dutzenden von Manuskriptfragmenten unterschiedlicher Herkunft bestehen, aus denen die Philologen vergangener Zeiten ein „Werk“ rekonstruiert haben.

Um dieses Werk aber zu verstehen und ihm gerecht zu werden, müsse man erforschen, wie, wann und wo die verschiedenen Schriftträger vorkamen, „material präsent“ waren: Die Forscher wollen wissen, wie zugänglich sie waren, wie man mit ihnen umging und ob sie verändert wurden. So untersuchen innerhalb des Sonderforschungsbereichs klassische Archäologen und Altertumswissenschaftler die öffentlich zugänglichen Inschriften in Athen auf der Agora.

"Wir geben dem Geschriebenen sein soziales Leben zurück"

Wichtig ist es dabei, wo die Inschriften jeweils platziert waren und wie sie räumlich zueinander in Bezug gesetzt wurden. Dabei geht es um mehr als die reine Deutung der Inschrift, der Ansatz soll vielmehr zu einer Archäologie und Topografie von Texten münden. „Wir führen die Archäologie in die Textwissenschaften ein, wir geben dem Geschriebenen seinen historischen Kontext, sein soziales Leben zurück“, sagt Hilgert.

Altorientalische Keilschrifttafeln enthalten Verwaltungstexte, literarische Werke oder wissenschaftliche Stoffe. Die Forscher interessierte nun, wie wichtig das Geschriebene in der Wissenschaftsausbildung war. Die Schreiber erlernten die Keilschrift zunächst mit standardisierten Texten in verschiedenen Sprachen. Bisweilen seien die Inhalte dieser Texte veraltet, wie etwa eine weit verbreitete Liste mit Namen, die zwar aus der Mode gekommen waren, aber noch lange als Schreib- und Sprachübung genutzt wurden. „Wir stellen dann fest, dass Schreiber nach ihrer langen Ausbildung später nur noch selten schrieben“, sagt Hilgert. Warum das so war, wisse man nicht. Niederschriften von Sachverhalten seien offensichtlich nur ein kleiner Teilbereich wissenschaftlicher Praxis im alten Orient gewesen. Wahrscheinlich fand ein Austausch vor allem mündlich statt, vermutet Hilgert.

Um Wissenstransfer geht es auch in einem Projekt an der mittelalterlichen Klosterbibliothek von Lorsch. Hier untersuchen die Forscher, welche Rolle die Tradierung antiken Wissens für das Mittelalter und die Renaissance spielte. In diesen non-typografischen Gesellschaften, in denen das Schriftliche im öffentlichen Raum nicht allgegenwärtig ist, könnte es Gemeinsamkeiten in der Handhabung von Bibliotheken geben.

Es geht auch um die Relevanz der Altertumswissenschaften

Das gemeinsame Ziel der Wissenschaftler am Sonderforschungsbereich ist, ein methodisches Instrumentarium zu entwickeln, das über die klassische Textwissenschaft hinausweist und Disziplinen wie Archäologie, Sozialwissenschaften, Architektur und Ethnologie einbezieht.

Dahinter steht auch die Notwendigkeit, der Öffentlichkeit die Relevanz der Altertumswissenschaften nahezubringen. „Wir können 5000 Jahre Menschheitsgeschichte überschauen und zeigen, wie Kultur entsteht. Der Mensch ist ein Kulturwesen und besteht aus mehr als nur aus Normen und Wirtschaft“, sagt Hilgert. „Wir können Fallbeispiele liefern und etwa klar belegen, dass in der Religion Flexibilität immer erfolgreicher war als Ausgrenzung.“

Wenn Hilgert im März kommenden Jahres den Direktorenposten in Berlin übernimmt, wird ihn sein großes Forschungsthema begleiten. „Auch im Museum müssen wir Geschichten erzählen und den Artefakten ihren Kontext zurückgeben.“ Zeigen will Hilgert etwa, was man können muss, um ein Ischtar-Tor zu bauen.

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