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Das Buch „Ich weiß nicht, was ich wollen soll“ erscheint am 4. April.

© Peter Atkins - Fotolia

Arme Würstchen: Über die Überflussgesellschaft und die Nebenwirkungen der Freiheit

Wir haben alle Chancen der Welt, wählen aus unzähligen Möglichkeiten aus. Doch Psychologen stellen fest: Glücklich macht uns das nicht.

Im Sommer 2009 traf ich mich regelmäßig mit sechs, sieben Freunden zum gemeinsamen Grillen auf einem alten, heruntergekommenen Bauernhof etwas außerhalb Berlins. Eines Abends tauchte Sophie, die sonst immer mit ihrem Freund Nico kam, alleine auf. Während ich am Grill stand, verschwanden die Frauen der Runde verschwörerisch ins Haus. Minuten später – die ersten Zucchinischeiben waren bereits beunruhigend dunkel geworden – kamen sie alle zurück in den Garten. Sophie weinte.

Wie sich herausstellte, hatte Sophie sich von Nico getrennt. Der Grund: Sie (damals Mitte 30) wollte Kinder, Nico nicht, er war einfach noch nicht so weit. Jetzt hatte sie die Schnauze voll. So bitter es sei, sie könne nicht weiter „ihre Zeit verschwenden“.

Die Diskussion, die daraufhin entflammte, war sonderbar: Da saßen wir, ein Grüppchen relativ privilegierter Stadtneurotiker, das über die Zumutungen des modernen Lebens lamentierte. Darüber, wie schwierig es heutzutage war, Arbeit und Liebe unter einen Hut zu bekommen. Einer in der Runde erzählte von einem Bekannten, der seit Monaten aufgrund eines Burn-outs krankgeschrieben war und nicht mehr ohne Antidepressiva auskam. Andere klagten über das Gefühl, „nie genug getan zu haben, egal, wie viel man auch tut“. Als meine Freundin und ich in der Nacht nach Hause fuhren und zu guter Letzt auch noch auf unsere Probleme zu sprechen kamen (meine Freundin „musste“ gerade arbeitstechnisch für längere Zeit nach Holland, hatte aber wenig Lust, mich, ihre Familie und Berlin zu verlassen), platzte es plötzlich aus ihr heraus: „Eigentlich haben wir doch alle Möglichkeiten, eigentlich müssten wir doch ganz zufrieden sein – wieso sind wir es nicht?“

Es war eine einfache Frage. Ich hatte keine Antwort.

Ein paar Tage später. Ich überlegte, ob die Sache nicht eine Recherche wert wäre und fing an, mich in die Frage meiner Freundin zu vertiefen – zunächst skeptisch, in der Erwartung, dass sich das Ganze als klarer Fall von Anstelleritis herausstellen würde. Die Einschätzung, dass gerade „meine“ Generation, oder, allgemeiner: wir Menschen in den freien, wohlhabenden Industrienationen, unter chronischer Unzufriedenheit leiden sollten, mutete mich, angesichts unserer – im historischen wie globalen Vergleich – geradezu luxuriösen Lage fast ein bisschen peinlich an.

Je tiefer ich aber in die Materie vorstieß, desto nachhaltiger wurde ich eines Besseren belehrt.

Spätestens seit den 1970er Jahren, entdeckte ich, befragen Meinungsforscher große Teile der Bevölkerung in der reichen, entwickelten Welt nach ihrer Lebenszufriedenheit. Die Resultate dieser Erhebungen sind, gelinde gesagt, oft ziemlich ernüchternd. Dazu zwei Beispiele.

Über den Zusammenhang von Wohlstand und Zufriedenheit - und über den kleinen Unterschied zwischen Männer und Frauen.

Erstens. Obwohl unsere Freiheit und unser Wohlstand in den letzten 35 Jahren praktisch ungebrochen gestiegen sind, hat die Lebenszufriedenheit in Deutschland nachgelassen. Auch der Fall der Mauer hat uns keinen Deut glücklicher gemacht, weder im Westen noch im Osten des Landes. Während das Bruttoinlandsprodukt gestiegen und die Mauer gefallen ist, scheint das unserem Glück nicht auf die Sprünge geholfen zu haben.

Während das Bruttoinlandsprodukt – ab 1992 Gesamtdeutschland, daher der kleine Hüpfer – gestiegen und die Mauer gefallen ist, scheint das unserem Glück nicht auf die Sprünge geholfen zu haben. Die obere, hellere Linie zeigt die Lebenszufriedenheit in den alten, die untere, dunklere Linie die Lebenszufriedenheit in den neuen Bundesländern (auf einer Skala von 0 bis 10).

Zweitens. Ein besonders rätselhaftes Beispiel betrifft die Situation der Frauen in der westlichen Welt. Zwei US-Ökonomen, davon eine Frau, haben das Glück der Frauen in zahlreichen Industrienationen seit den 1970er Jahren minutiös verfolgt. Über ihren Befund grübeln die Forscher bis heute selbst: Frauen sind – teils absolut, teils „lediglich“ relativ zu den Männern – im Laufe der letzten Jahrzehnte (während sich ihre Freiheit und Möglichkeiten also stetig erweiterten) immer unzufriedener geworden.

Die Grafik zeigt einen Ausschnitt der Umfrage-Ergebnisse aus den USA. Als relativer Trend zeigt sich das Phänomen aber in allen untersuchten Nationen, in Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Spanien, Portugal und den Niederlanden. Einzige Ausnahme ist Deutschland, was daran liegt, dass bei uns sowohl Frauen als auch Männer unzufriedener werden!

Man stutzt. Man fragt sich, was eigentlich los ist mit uns. Wieso genießen wir unseren privilegierten Lebensstil nicht etwas mehr, als wir es den empirischen Erhebungen zufolge tun? Sind wir einfach nur undankbar? Oder was fehlt uns noch in der Überflussgesellschaft?

Wenn ich meinen Freunden von dem Frauenbeispiel erzähle, entgegnen sie mir meist prompt: Ist doch klar, Frauen haben ja heutzutage auch zwei Jobs an der Backe – Kind und Karriere! Die Frau von heute sei eben total überlastet, sie wisse vor lauter Jonglieren zwischen Kita und Geschäftstermin gar nicht, wo ihr der Kopf steht.

Sicher macht diese Doppelaufgabe vielen Frauen zu schaffen, und doch kann sie nicht die ganze Erklärung für den beobachteten Unglückstrend sein. Der gleiche Trend zeigt sich nämlich auch bei Frauen ohne Kind und Frauen ohne Beruf, bei Frauen also, die der Doppelbelastung schlichtweg nicht ausgesetzt sind. Es muss somit noch andere Gründe für den Unglückstrend geben. Nur welche?

Nach einigen Wochen der Recherche, nach dem Sichten und Auswerten zahlreicher Studien zum Thema, wurde mir klar, dass sich zumindest ein Teil der Antwort auf die Frage meiner Freundin in der Frage selbst verbarg. Mittlerweile bin ich mir ziemlich sicher, dass wir nicht bloß unzufrieden sind, obwohl, sondern nicht zuletzt auch weil wir so viele Möglichkeiten haben.

Es ist die Freiheit selbst, die uns mitunter aufs Gemüt schlägt. (Da Frauen in den letzten Jahrzehnten eine besonders starke Ausdehnung ihrer Freiheit erfahren haben, wäre es nicht unlogisch, wenn sie auch deren Schattenseiten besonders stark zu spüren bekämen, mit der Folge, dass ihnen ihr Glücksplus, das sie einst den Männern gegenüber genossen, weitgehend verloren gegangen ist.) Worin aber sollten die vermeintlichen Risiken und Nebenwirkungen der Freiheit und Optionserweiterung bestehen?

Ein ebenso einfaches wie aufschlussreiches Experiment der Psychologie gibt uns eine erste Ahnung. In dem Versuch stellte die Forscherin Sheena Iyengar von der Columbia-Universität in New York in einem Delikatessenladen einen Probetisch hin, wo die vorbeikommenden Kunden verschiedene Marmeladensorten kosten konnten. In einer Variante des Versuchs standen sechs Marmeladensorten zur Auswahl, in einer anderen 24.

Wie sich herausstellte, lockte das üppige Konfitürensortiment zwar recht viele Kunden an den Probiertisch. Diese aber schienen eher verunsichert zu sein. Sie hielten inne, zögerten, diskutierten das Für und Wider der diversen Sorten, nur um anschließend meist ratlos weiterzuziehen. Die wenigsten (drei Prozent) verließen das Geschäft mit einem Marmeladenglas in der Einkaufstasche. Ganz anders die Kunden der kleinen Auswahl: von ihnen entschieden sich ganze 30 Prozent zum Kauf einer Konfitüre.

Erstmals hatte sich in einem Experiment gezeigt, dass eine Erweiterung von immer mehr Optionen auch Nachteile mit sich bringt: Verunsicherung und die Unfähigkeit, sich zu entscheiden. Weitere Studien Iyengars sowie anderer Forscherteams offenbarten, dass Menschen bei einer mittelgroßen Auswahl von rund zehn Gegenständen nicht nur beherzter zugreifen, sondern am Ende auch glücklicher mit ihrer Wahl sind als bei einem Riesenangebot: weniger Auswahl, mehr Zufriedenheit.

Eine Optionserweiterung bewirkt nicht nur Positives. Warum?

Das Ergebnis ist paradox. Spontan würden viele von uns wohl meinen, dass ein Angebot nicht groß genug werden kann. Luxuriöse Supermärkte bieten locker Hunderte von Marmeladensorten an, Online-Partnerbörsen prahlen mit Millionen von Mitgliedern. Und diese Vielfalt hat ja auch etwas Verlockendes: Schließlich wächst mit der Angebotsgröße die Chance, dass wenigstens eine Alternative (Marmelade, Lebenspartner) dabei ist, die exakt unserem Geschmack entspricht.

Auf der anderen Seite jedoch – und das übersehen wir leicht – bewirkt eine Optionserweiterung eben nicht nur Positives. Eine offensichtlich nicht so schöne Folge ist, dass man mit steigendem Angebot systematisch mehr verpasst. Sie betreten eine Eisdiele, die nur drei Eissorten anbietet. Sie bestellen zwei Kugeln, womit Sie fast alles ausgekostet haben, was Ihnen die Welt des Eisladens zu bieten hatte. Jetzt aber kommen Sie in einen modernen Laden mit 200 Eissorten. Entweder Sie probieren wiederum zwei Drittel der Sorten aus und lassen sich anschließend ins Krankenhaus einliefern. Oder Sie bestellen nur zwei Kugeln und verpassen die restlichen 99 Prozent (also fast alles).

Der Punkt ist, dass unsere Gesellschaft mehr und mehr dem modernen Eisladen hoch zwei ähnelt. Und so wie die Supermarktwelt mit Risiken und Nebenwirkungen für unseren Körper einhergeht (in Form von Übergewicht), so stellt die Überflussgesellschaft auch für unsere Psyche nicht immer nur einen Segen, sondern auch eine Herausforderung dar. Habe ich mich auch richtig entschieden? Hätte ich nicht lieber … ? Sollte ich nicht, und ich könnte doch auch … ? So rumort es im Kopf des modernen Stadtneurotikers angesichts der zahlreichen Optionen, von denen er – wie unbefriedigend! – immer nur einige wenige wahrnehmen kann.

In gewisser Weise ist es unmöglich, der modernen Multioptionsgesellschaft „gerecht“ zu werden. Entweder man erhöht das Lebenstempo, lädt sich jeden Tag viel zu viel auf und lebt in chronischer Burn-out-Gefahr. Oder es geht einem unendlich viel durch die Lappen.

Eine weitere, noch belastendere Folge der Freiheit ist der Aspekt der Schuld und Reue: Je freier man ist, desto größer werden die Erwartungen an das eigene Ich, und desto größer ist auch das Risiko, diese Erwartungen nicht erfüllen zu können, sei es im Beruf, in der Liebe oder im Leben überhaupt.

So haben australische Epidemiologen vielleicht nicht umsonst einen Zusammenhang festgestellt zwischen der Freiheit, die Jugendliche in einem bestimmten Land empfinden (jugendliche Finnen etwa fühlen sich freier als jugendliche Japaner, die Deutschen liegen im Mittelfeld), und der Suizidrate junger Männer in diesem Land.

Die Grafik zeigt nationale Selbstmordraten von Jungen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren. Wie die Trendlinie veranschaulicht, ist die Selbstmordrate eines Landes tendenziell umso höher, je mehr Jugendliche dieses Landes davon überzeugt sind (Prozentsatz), dass man frei über sein Leben entscheiden kann und Kontrolle über sein Schicksal hat.

Die Suizidrate von Jungen zwischen 15 und 24 Jahren eines Landes ist tendenziell umso höher, je mehr Jugendliche dieses Landes davon überzeugt sind (Prozentsatz), dass man frei über sein Leben entscheiden kann und Kontrolle über sein Schicksal hat.

Freiheit, könnte man diesen Befund deuten, bringt eben nicht nur stolze Gewinner hervor, sondern, als Kehrseite der Medaille, auch den „Loser“. Eine Lebenskrise trifft uns umso härter, je stärker uns die Gesellschaft den Eindruck vermittelt, dass sie uns den Weg zu einem erfolgreichen, glücklichen Leben ausdrücklich ermöglicht.

Überspitzt gesagt: Wer in einer Diktatur scheitert, ist vielleicht eine tragische Figur, unter Umständen auch ein Held. Wer in einem freien Land verliert, einem Land, in dem einem – tatsächlich oder vermeintlich – alle Türen offenstehen, der hat nicht einfach nur verloren. Er hat, so die selten ausgesprochene und dennoch unmissverständliche Botschaft an die Adresse des Verlierers, versagt.

Bas Kast ist Wissenschaftsautor. Der Text ist ein exklusiver Vorabdruck aus Kasts neuem Buch „Ich weiß nicht, was ich wollen soll“. Es erscheint am 4. April bei S. Fischer (240 S., 18,99 Euro)

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