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Ausgestorben. Der Naturforscher John James Audubon sah Karolinensittiche noch zu tausenden und zeichnete sie.

© New York Historical Society

Artensterben: Die Letzten ihrer Art

Heute vor 100 Jahren starb „Incas“, der letzte Karolinasittich – ein Symbol für den rasanten Artenschwund.

Leuchtend grün gefärbt, mit gelbem Kopf und einem orangefarbenen Fleck um den hellen Schnabel war er ein schmucker Papagei. Auf den Tag genau vor 100 Jahren, am 21. Februar 1918, starb „Incas“ im Zoo von Cincinnati in Ohio. Er war das letzte Exemplar des einst massenhaft vorkommenden Karolinasittichs Conuropsis carolinensis – eine von weltweit bislang 156 ausgestorbenen Vogelarten. „Incas“ letzte Artgenossin „Lady Jane“ war nur wenige Monate vor ihm gestorben. Kurioserweise in genau jenem Käfig, in dem vier Jahre zuvor auch „Martha“, die letzte der einst Milliarden von Wandertauben Nordamerikas. Nun haben Forscher herausgefunden, wie eine Art trotz einer so großen Zahl von Tieren in kürzester Zeit einfach verschwinden kann.

Von Millionen bunten Papageien blieben nur 700 Museumspräparate

Über den Tod der letzten Wandertaube „Martha“ hatten Zeitungen überall in den USA berichtet, beim Sittich „Incas“ hielt sich die Berichterstattung in Grenzen. Während „Martha“ auf Eis gelegt, per Zug nach Washington gebracht, präpariert und seitdem in der Vogelsammlung des Nationalmuseums für Naturgeschichte als Menetekel des menschengemachten Artenschwundes ausgestellt wurde, ging der auf die gleiche Reise geschickte Leichnam von „Incas“ verloren.

Nur etwa 700 Bälge des Karolinasittichs haben in den Naturkundemuseen weltweit überdauert. Einst lebten die Vögel massenhaft in den alten Wäldern entlang von Flüssen im Osten der Vereinigten Staaten, von New York und den Großen Seen bis zum Golf von Mexiko. Wie ein riesiger grünschimmernder Teppich habe es ausgesehen, so der Naturkundler und Vogelzeichner John James Audubon, wenn sich ein Schwarm Karolinasittiche in einem Kornfeld niederließ oder über die Früchte einer Obstplantage herfiel. Als sich die europäischen Siedler über den Osten Nordamerikas ausbreiteten, verloren die Sittiche zunehmend ihren Lebensraum. Zudem jagte man sie, weil ihre Federn als hübscher Hutschmuck begehrt waren. Vor allem aber galten sie als Schädlinge, die man gnadenlos dezimierte. Innerhalb nur eines Jahrhunderts schrumpfte die Zahl der Karolinasittiche von mehreren Millionen auf nur wenige Exemplare zusammen. 1904 wurde das letzte freilebende Tier in Florida getötet, kurz darauf auch westlich des Mississippi.

Die häufigste Vogelart verschwand binnen weniger Jahrzehnte

Zum Verhängnis wurde Conuropsis carolinensis, der gesellig in großen Schwärmen bis zu tausend Tieren lebte, sein besonders soziales Verhalten. „Ich habe Äste gesehen, die so dicht von ihnen bedeckt waren, wie es nur möglich war“, berichtete Audubon. Wenn Jäger einen Vogel schossen, kehrten die anderen nach kurzem Auffliegen auf die Äste zurück – ein allzu leichtes Ziel.

Aber wie kann eine Art, die so zahlreich ist, binnen so kurzer Zeit aussterben, während andere dem Einfluss des Menschen ausweichen und lange trotzen können? Diese Frage lässt sich mit Hilfe neuer Analysen des Erbguts der Wandertaube beantworten, die das Schicksal der Karolinasittiche teilte. Einst durchstreiften schätzungsweise drei bis fünf Milliarden Wandertauben Nordamerika, auf der Suche nach massenhaft reifender Nahrung wie Bucheckern, Eicheln, Kastanien und Beeren. Wo ihre nomadisierenden Schwärme auftauchten, die von einem Ende des Horizonts bis zum anderen reichten, und die am helllichten Tag den Himmel wie bei einer Sonnenfinsternis verdunkelten, war die Luft buchstäblich mit Tauben gefüllt. Auch ihre Brutkolonien bestanden aus mehreren hunderttausend Paaren, ein Naturspektakel.

Ausgestopft. Einst waren Wandertauben die häufigsten Vögel, heute existieren sie nur noch ausgestopft in Museen wie dem Berliner Naturkundemuseum.
Ausgestopft. Einst waren Wandertauben die häufigsten Vögel, heute existieren sie nur noch ausgestopft in Museen wie dem Berliner Naturkundemuseum.

© Carola Radke/Museum für Naturkunde Berlin

Sehr wahrscheinlich war Ectopistes migratorius damit die häufigste Vogelart, die es jemals gab. Doch dem Gemetzel des Menschen konnten selbst diese Vogelmassen nicht widerstehen. Eine kürzlich im Fachblatt „Science“ veröffentlichte Studie zeigt anhand von Erbgutanalysen von 45 Museumsbälgen der Wandertaube, dass diese trotz ihrer enormen Zahl von Milliarden Tieren eine überraschend geringe genetische Vielfalt aufwies. Offenbar stammten all diese Wandertauben ursprünglich von einer nur sehr kleinen, genetisch recht ähnlichen Population ab – Genetiker sprechen vom „genetischen Flaschenhals“, durch den die Art gegangen sein muss. Dies deckt sich mit anderen Studien, die nahelegen, dass die Bestände der Wandertaube keineswegs immer derart riesig gewesen sind. Die Tiere profitierten davon, dass im Gefolge von Kolumbus' Entdeckung der Neuen Welt die dort lebenden amerikanischen Ureinwohner beträchtlich dezimiert worden waren – vor allem durch die von Europäern eingeschleppten Krankheiten. Dadurch entstanden nahrungsreichere Wälder, als sie die intensive Bewirtschaftung durch die indigenen Völker erlaubt hatte. Diese „neue Wildnis“ bot den Wandertauben seit dem 17. Jahrhundert so günstige Lebensbedingungen, dass sie sich in kurzer Zeit massenhaft vermehren konnten. Ähnlich wie die Wandertaube dürften auch die Karolinasittiche erst aufgrund der nach-kolumbischen Veränderungen in Nordamerika so zahlreich geworden sein.

Trotz Masse fehlte das genetische Anpassungspotenzial

Als dann immer mehr Europäer Nordamerika besiedelten, erneut die Wildnis rodeten und noch intensiver bewirtschafteten als die Ureinwohner, änderte sich die Umwelt so schnell, dass den beiden Vogelarten zu wenig „genetische Antworten“ blieben: Ihnen fehlte trotz ihres massenhaften Vorkommens die genetische Vielfalt, die wenigstens einige Tiere in die Lage versetzt hätte, andere Nahrungsquellen und andere Lebensräume zu erschließen, um sich dort – trotz des Einflusses des Menschen – in ausreichender Zahl fortpflanzen zu können. So erinnert das traurige Jubiläum „Incas’“, auch daran, dass wir erst jetzt beginnen, die Dynamik ökologischen Wandels besser zu verstehen.

Matthias Glaubrecht

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