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Etwa dreißig Studierende im Foyer der Humboldt-Uni.

© Mike Wolff

Aufschrei der Professoren: Unis in Berlin sind „voll, aber nicht dramatisch voll“

Nach dem Hilferuf der HU-Professoren stellt sich die Frage: Wie schlimm ist die Lage an den Unis tatsächlich? Die Hörsäle sind zumindest nicht mehr so überfüllt wie früher, aber die Last ist ungleich verteilt.

Professor in Berlin – ein Traumjob, dachten Gabriele Metzler und Martin Heger, als sie an die Humboldt-Universität berufen wurden. Doch da kannten sie die Berliner Hochschulpolitik noch nicht, schrieben sie am Montag im Tagesspiegel. Der Berliner Senat huldige einer „Tonnenideologie“, die Lehrerausbildung sei angesichts der dramatischen Überlast ein Witz, Hörsäle seien marode.

Der Befund der Historikerin und des Juristen ist vernichtend. Gleichzeitig berichten andere Berliner Professoren aber, sie seien wegen des noch immer weithin geltenden Numerus clausus zufrieden, er schütze die Unis vor den Massen. Zu hören ist auch von Masterstudiengängen, die keineswegs überlaufen sind und in denen sogar noch Plätze frei bleiben. Und erst unlängst erklärte der FU-Präsident Peter-André Alt, die Betreuungsrelation an seiner Uni habe sich in den vergangenen vier Jahren verbessert, noch vor vier Jahren seien 80 Studierende auf einen Dozenten gekommen, nun seien es noch 50. Wie passt das alles zusammen?

Numerus clausus versus „volllaufen“

In Berlins Hochschulpolitik wirken zwei Hebel. Einerseits gilt seit zehn Jahren der fast flächendeckende Numerus clausus. Anders als früher können sich nicht mehr alle einfach einschreiben. Gleichzeitig müssen die Hochschulen aber auf jeden Fall „volllaufen“ – unterschreiten sie die mit dem Senat verabredete Studienanfängerzahl (28.500 im Jahr), werden ihnen Mittel abgezogen. Der Senat bestraft die Hochschulen, weil Berlin Geld aus dem Hochschulpakt von Bund und Ländern verloren geht, wenn die Zahl der Studienanfänger sinkt. Jeder Studienanfänger bringt Geld. Bis zum Jahr 2017 sollen 16 Prozent des Zuschusses für die Berliner Hochschulen aus dem Pakt kommen.

Warum es trotz des NCs voll werden kann

Das Ideal wäre also, dass alle Studienplätze besetzt sind. Dieses Ideal ist bei der Zulassung aber kaum zu erreichen, sie sind mal unter-, mal überbesetzt. Denn die Studieninteressierten bewerben sich bundesweit an mehreren Unis. Oft nehmen sie den angebotenen Platz dann doch nicht an. Die Berliner Unis überbuchen ihre Plätze darum, um eine Unterauslastung zu vermeiden. Regelmäßig erleben die Studiengänge dabei Überraschungen: Weit mehr Zugelassene nehmen den Platz an als in der Vergangenheit – oder weit weniger, als gedacht. Überlasten in bestimmten Studiengängen können dann noch kurzfristig mit Lehrbeauftragten aufgefangen werden. Die Überfüllung in diesen Bereichen ist für das Personal und die Studierenden belastend. Aber finanziell ist sie erwünscht. Denn weil manche Studiengänge nicht ausgelastet sind, können die Unis nur durch Überlast an anderer Stelle auf die vom Senat verlangte hundertprozentige Auslastung kommen.

Besonders beliebte Fächer wie BWL, Jura und Psychologie müssen darum die Hauptlast in der Lehre tragen, sagt FU-Präsident Peter-André Alt. Denn die Nachfrage in den früher überlaufenen großen Geisteswissenschaften wie Geschichte oder Germanistik sei „nicht mehr so riesig“. Dass die großen Massenfächer sich nur mit Lehraufträgen helfen dürfen anstatt mit Professuren, sei aber „unbefriedigend“: „Wir leben nur von Semester zu Semester.“

Wie voll es in den Seminaren ist

Die HU-Professoren berichteten im Tagesspiegel von einem Philosophie-Seminar mit 100 Teilnehmern. Solche Kursgrößen sind in Berlin aber nicht die Regel. Es gibt große Schwankungen. In den Pflichtkursen für Anfänger der FU-Germanistik sind üblicherweise 30 bis 50 Teilnehmer, sagt eine Dozentin: „Als sehr voll gelten Kurse, wenn sie 50 bis 70 Teilnehmer haben.“ Ursache seien besonders populäre Themen, Uhrzeiten oder attraktive Dozenten. Darum werde manchmal eine Beschränkung auf 35 Teilnehmer verhängt. Die Dozentin selbst unterrichtet gerade im Bachelor einen Kurs mit 22 Teilnehmern, einen weiteren mit nur zwölf Teilnehmern. Gegen Ende des Bachelors und erst recht im Master seien die Gruppen nicht besonders groß, sagt sie. Die Professoren, die meist lieber höhere Semester unterrichteten, seien darum weniger stark belastet als der Mittelbau. Dennoch ist die Lage damit deutlich besser als noch in den neunziger Jahren an der FU, als Einführungsveranstaltungen in Germanistik durchaus 180 Teilnehmer hatten, Hauptseminare 100 oder, wenn das Thema sehr reizvoll war, 300.

Doch auch 40 bis 50 Studierende im Kurs sind schon deutlich zu viel, findet Laila, die an der FU im vierten Semester Deutsch und Geschichte mit Lehramtsoption studiert. In diesem Sommersemester seien etliche Seminare so voll, weil die Teilnehmerbeschränkung aufgehoben worden sei, um allen einen Platz anbieten zu können. Das führe etwa in ihrem Deutschdidaktikkurs dazu, dass sich weniger Kommilitonen als sonst am Seminargespräch beteiligten. „Man ist einfach eingeschüchtert von der Masse der Leute“, sagt die 19-Jährige. Klagen von ihren Dozenten über überfüllte Seminare oder zu viel Korrekturarbeit hörten sie und ihre Kommilitonen trotzdem kaum. „Sie arbeiten so gut, wie es eben geht.“

Unis müssen möglichst viele Lehramtsabsolventen hervorbringen

An der TU ist es „voll, aber nicht dramatisch voll“, sagt Hans-Ulrich Heiß, Vizepräsident für Lehre. Die TU würde zwar in vielen Fächern inzwischen mehr Studierende zulassen, als sie müsste, aber: „Wir kriegen trotzdem akzeptable Studienbedingungen hin.“ Zum Herbst würden die Zulassungszahlen nochmals „moderat“ erhöht. Die TU schafft zudem wie berichtet in einigen Fächern den NC ab. Intern setze die TU Anreize, mehr Studierende aufzunehmen, sagt Heiß: „Tutorenstellen werden dorthin verteilt, wo die Studierenden sind.“ Der Anstieg der Studierendenzahlen könne aber nicht immer weitergehen: „Unsere Grundfinanzierung muss verbessert werden.“

Die von Heger und Metzler beschriebene Überlast im Lehramtsmaster Geschichte von 270 Prozent stellt auch an der HU einen Spitzenwert dar, wie Thomas Sandkühler, Geschichtsdidaktiker an der HU, sagt. Dennoch hat die HU auf einen NC weitgehend verzichtet. Auch, weil Berlins Universitäten jährlich 1000 Lehramtsabsolventen hervorbringen müssen, um finanziellen Strafen des Senats zu entgehen. Sandkühler sagt, es sei aber schwer zu prognostizieren, wie viele der Bachelor-Studierenden schließlich im Master of Education ankommen und dann eine dramatische Überlast verursachen. Für die Studierenden in Geschichte könne ein Wechsel ins Lehrerstudium attraktiv sein.

Der FU-Historiker Paul Nolte sagt: „Die Situation ist an unterschiedlichen Stellen sehr unterschiedlich.“ Während im Geschichts-Master der FU Plätze leer blieben, sei die Fachdidaktik Geschichte so dramatisch überlastet wie die der HU. Doch wenn es um die personelle Verstärkung gehe, schöben die Uni und der Senat die Verantwortung einander zu. Diskutiert werden müsse an den Unis auch, dass die Zeithistoriker wegen des Andrangs stärker belastet seien als Althistoriker. Und die Politik im Bund und den Ländern müsse erkennen, dass Studierende und Dozenten aus der ganzen Welt in die Unis der Hauptstadt drängen, was erfreulich sei, aber auch arbeitsintensiv.

Nolte lobt seine HU-Kollegen dafür, dass sie die Debatte um die Unwuchten innerhalb der Unis auf die Agenda gesetzt haben: „Der Appell ist richtig“, sagt er.

Wie die Lage in anderen Ländern ist

Berlin macht eine besonders schlechte Hochschulpolitik, schrieben Heger und Metzler im Tagesspiegel. Doch erst am Mittwoch sind in mehreren Bundesländern tausende Studierende und Mitarbeiter auf die Straße gegangen, um gegen die Lage ihrer Hochschulen zu demonstrieren. Auch an allen neun Unis im Musterländle Baden-Württemberg habe es Proteste „gegen überfüllte Seminare, marode Hochschulbauten und prekäre Arbeitsverhältnisse“ gegeben, berichtete dpa. In mehreren Ländern, etwa im Saarland oder in Sachsen-Anhalt, geht es sogar darum, Sparmaßnahmen abzuwenden. Von solchen Einschnitten ist Berlin verschont. Die Zuschüsse wachsen gegenüber dem Jahr 2013 bis 2017 um 11,5 Prozent, um steigende Kosten abzufangen.

Der Investitionsstau

Hörsäle könnten nicht genutzt werden, weil sie die Brandschutzauflagen nicht erfüllen, die Landespolitik habe vor dem Bau- und Renovierungsbedarf der Berliner Universitäten kapituliert, kritisierten Metzler und Heger. Die Berliner Hochschulen beziffern ihren Sanierungsstau insgesamt auf zwei Milliarden Euro. Wie die Stadt, in der Schuldächer einstürzen, hier vorgehen will, ist nicht zu erkennen.

Fazit

Eine generelle Überfüllung, wie sie noch in den neunziger Jahren herrschte, gibt es an den Berliner Unis nicht mehr. Die von Gabriele Metzler und Martin Heger beschriebene Lage gilt längst nicht in der Fläche. Aber Metzler und Heger schieben eine wichtige Debatte über Unwuchten an. Diese Unwuchten könnten sich bei besserer Finanzierung durch das Land und den Bund verhindern lassen, ebenso wie die Masse prekärer Beschäftigungsverhältnisse und die maroden Gebäude. Die Studierenden und Wissenschaftler wünschen sich durchgängig kleinere Lerngruppen, also mehr Qualität.

Die Senatsverwaltung erklärt auf Anfrage, zweifellos müssten Berlins Wissenschaftler sehr viel leisten: „Aber es ist kein Grund erkennbar, warum die Arbeitsbelastung jetzt zugenommen haben sollte und warum sie an der HU besonders groß sein soll.“ Mit den neuen Hochschulverträgen seien finanzielle Steigerungen für die Hochschulen „erkämpft“ worden, „die weit über der Steigerung des Berliner Gesamthaushalts liegen“. Berlin brauche auch deshalb hohe Studienanfängerzahlen, um möglichst vielen ein Studium zu ermöglichen. „Bei den Lehramtsstudierenden brauchen wir in jedem Fall ein ausreichendes Angebot“, heißt es weiter, ohne dass aber ausgeführt wird, wie es dazu kommen soll.

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