zum Hauptinhalt
Schmaler Grat. Für hoch betagte oder aussichtslos Kranke ist die Hochleistungsmedizin oft eher eine leidvolle Sterbeverzögerung als sinnvolle Lebensverlängerung.

© Amélie Benoist, BSIP/Corbis

Aus dem Alltag einer Intensivstation: Zwischen Heil und Unheil

Die Intensivstation ist kein Ort der Helden und Wunder. Im Gegenteil: Niederlagen sind hier alltäglich, der Tod steht am Ende vieler und langwieriger Versuche, Patienten im Leben zu halten. Ein Blick hinter die Milchglastüren.

Ein hoher, scharfer, nicht enden wollender Alarmton, als dringe eine Stricknadel durch mein Hirn von einem Ohr zum anderen, haftet als frühester Eindruck an die Zeit auf der Intensivstation in meinem Gedächtnis, ich war Medizinalassistent in einem Hamburger Krankenhaus. Die Sirenengeräusche der Feuerwehr- und Notarztwagen, die rhythmisch spitzen Laute der EKG-Monitoren, das fauchende Geräusch der Beatmungsgeräte und die lang gezogenen, vor der Auslösung eines kardialen Elektroschocks hochfrequenten Signale des Defibrillators dringen seitdem immer wieder in das Innere meines Kopfes, nicht selten einem quälenden Tinnitus gleich, der durch meine Träume tönt, mit dem ich aufwache und einschlafe.

Jahre später, auf der Intensivstation einer Berliner Universitätsklinik. Alarm schrillt aus einer der „Boxen“. Schwestern und Pfleger, die beiden diensthabenden Assistenzärzte, der anwesende Oberarzt und ich selbst stürzen in Box 7 zu Herrn D., einem 52-jährigen Patienten, der am Tag zuvor vom Notarzt mit einem schweren Herzinfarkt eingewiesen worden war. Sein geschädigtes Herz pumpte nicht mehr genug Blut in den Kreislauf, er hatte einen kardiogenen Schock entwickelt, eine kaum beherrschbare Komplikation dieser Erkrankung. Die Herzkatheterbehandlung steckte noch in den Anfängen und war noch nicht verfügbar. Seit Stunden lag sein Blutdruck trotz hoch dosierter Kreislaufmittel nur bei 60 – und jetzt zeigte der Herzmonitor Kammerflimmern, abrupt gefolgt von einer Nulllinie: Herzstillstand.

Mit betroffenen Gesichtern umstehen alle das Bett. Einer der beiden Ärzte hält unter den missbilligenden Blicken der Schwestern die grün blinkenden Elektroden des Defibrillators über den Brustkorb des Patienten, in der Hoffnung, das Herz ins Leben zurückschocken zu dürfen – er wartet nur auf ein Signal des Oberarztes. Der scheint für einen kurzen Moment tatsächlich noch einen Wiederbelebungsversuch zu erwägen, dann zeigt er durch eine Handbewegung an, jeden weiteren Behandlungsversuch zu unterlassen. „Abbruch! – Wir haben schon genug Patienten ins Wachkoma geschickt!“

Mit der Totenruhe nehmen wir es hier nicht so genau

Auf dem Flur nimmt der Oberarzt mich zur Seite. „Kommen Sie, bevor der Tote in der Pathologie verschwindet, üben Sie rasch die Intubation. Noch ist er ja nicht leichenstarr und die Kiefer sind frei beweglich. Ich zeig's Ihnen. Wenn Sie später Notarztwagen fahren, müssen Sie das beherrschen, genauso wie den Subklaviakatheter, Sie wissen schon, die Punktion der großen Schlüsselbeinvene, das zeig ich Ihnen gleich mit, okay? Was schau’n Sie denn so skeptisch drein, ist was nicht in Ordnung?“

„Nein, nein … schon gut, danke. Ich dachte nur … wegen der Totenruhe …“

„Die Totenruhe? … Nun, eigentlich haben Sie recht … aber die nehmen wir hier nicht so genau … sonst lernt ihr ja nix!“

Minuten später stehen wir am Kopfende der Leiche, die Tür des Raumes ist geschlossen. Unter Anleitung des Oberarztes überstrecke ich den Kopf des noch warmen Verstorbenen, führe die Spitze des beleuchteten Intubationsspatel bis zum Zungengrund des Toten, hebele den Kehldeckel an und habe nun – Schweiß steht auf meiner Stirn – freie Sicht auf die Stimmbänder, zwischen denen ich den Beatmungsschlauch in die Luftröhre vorschiebe. „Perfekt gemacht!“, lobt der Oberarzt, „den Subklaviakatheter machense an der nächsten Leiche, ist ja nicht die letzte, die Sie hier sehen.“

Niederlagen sind auf der Intensivstation an der Tagesordnung

Intensivstation – ein Ort, über den die Öffentlichkeit sich zutiefst täuscht. Sie glaubt, hinter den doppelflügeligen Milchglastüren verbirgt sich ein Ort der Helden und Wunder, selbst wenn Fernsehserien längst nicht mehr nur heroische Ärzte und medizinische Hochtechnologie zum Wohle des Kranken zeigen. Sie glaubt es nicht zuletzt deswegen, weil sie es glauben will. Denn zu groß wäre das Entsetzen, wenn sie sich vom Gegenteil überzeugen lassen müsste: Niederlagen sind hier an der Tagesordnung, Sterben und Tod stehen am Ende vieler und langwieriger Versuche, lebensbedrohlich erkrankte Patienten im Leben zu halten. Wiederbelebung? Mehr als neunzig Prozent der Reanimationen scheitern; nur jeder zehnte Patient überlebt, und das oftmals nur mit erheblichen Einschränkungen: Schwerstpflegebedürftigkeit, Autonomieverlust, Wachkoma.

Vater und Sohn: Wer ist der Patient?

Von einer unumkehrbaren Hirnschädigung betroffen war auch Klaus K., ein 36-jähriger Patient, der sich vor acht Jahren wegen eines Zerwürfnisses mit seiner Ehefrau mit einem Kopfschuss selbst töten wollte und seitdem im Zustand des Wachkomas weiterlebt. Er atmet spontan, sein Blick geht ins Leere. Er nimmt weder sich selbst noch seine Umwelt wahr, an nichts kann er mehr teilhaben. Weil er nicht schlucken kann, musste bereits zu Beginn seines Leidens eine Ernährungssonde durch die Bauchdecke gelegt werden. Sie wurde bereits zweimal erneuert. Ein Blasenkatheter führt den Urin ab, mehrmals täglich muss er trockengelegt und gewindelt werden. Sein gedunsener Körper verbirgt nur dem unerfahrenen Auge, dass seine Muskulatur weitgehend durch Binde- und Fettgewebe ersetzt ist. Ellenbogen- und Kniegelenke sind in Beugestellung versteift.

Die Pflege von Klaus K. ist zum Lebensinhalt seines Vaters geworden, der mit ihm in einer nahezu symbiotischen Verbindung lebt und ihn gemeinsam mit einem Pflegedienst mustergültig versorgt. Vor Jahren bezogen Vater und Sohn eine Wohnung in der Nähe des Krankenhauses, um bei gesundheitlichen Komplikationen unverzüglich ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen zu können.

"Warum darf er nicht endlich sterben?"

Immer wieder kommt es bei Klaus K. zu Krisensituationen. Eine erneute Lungenentzündung im Januar 2001 veranlasst den Vater zu einer Klinikeinweisung. Schon während der vorherigen Aufenthalte seines Sohnes hatte der Vater das ärztliche und pflegerische Tun akribisch kontrolliert und unablässig Einsicht in die Krankenunterlagen gefordert. Auch jetzt besteht der Vater darauf, seinem zu keiner eigenen Äußerung fähigen Sohn jede denkbare ärztliche Maßnahme der Lebenserhaltung zuteil werden zu lassen. Der Sohn wird auf die Intensivstation verlegt, um die vom Vater geforderten Leistungen erfüllen zu können.

Einen aussichtslos kranken und gequälten Menschen wie Klaus K. in seinem so geschundenen Körper immer wieder behandeln zu müssen und dahinzubringen, für eine gewisse Zeit außerhalb der Klinik existieren zu können, wird für Pflegekräfte der Intensivstation zu einer ethischen Zumutung. Oberschwester Karla sprach aus, was alle dachten: „Das kommt einer Folter gleich, was hier mit Klaus K. geschieht! Ich mag dies vor mir selbst nicht mehr verantworten“, klagte sie aufgebracht, als die ärztliche Morgenvisite ratlos an seinem Bett verweilte – „warum darf er nicht endlich sterben?“

Mehrfach hatten Ärzte und Schwestern in der Vergangenheit versucht, mit dem Vater über die tragischen Existenzbedingungen seines Sohnes zu sprechen, doch der hatte jedes Gespräch abgelehnt. Selbst die ihm mitgeteilte Aussicht, dass künftig eine ständige Beatmung notwendig werden könnte, schreckte den Vater nicht. Eine Patientenverfügung des Sohnes gab es nicht, und der Vater, vom Gericht als Betreuer eingesetzt, versicherte uns, dass sein Sohn dies alles gewollt hätte. Das jedoch mochte das Team der Intensivstation ihm nicht abnehmen.

„Und wenn Sie Ihr Sohn wären … würden Sie dann auch von uns in der Weise, die Sie hier jeden Tag erleben, behandelt werden wollen?“ Der Vater wandte seinen Kopf ab und schwieg. Schließlich drohte er uns, sollten wir weiterhin versuchen, ihn von seinem Beharren auf einer lebenserhaltenden Behandlung seines Sohnes abzubringen, mit einer Anzeige bei der Staatsanwaltschaft.

Fallpauschalen, Zielvereinbarungen, Boni: Es gibt viele Missbrauchsanreize

Intensivstation – ein Ort, der einem Schlachtfeld gleicht; ein Ort der Erbarmungslosigkeit, nicht selten auch ein Ort des Spotts und übler Witze. „Die Guten halten’s aus und überleben.“ Onkelhafte Worte eines Altassistenten über diejenigen, die hier seine Patienten waren. Eineinhalb Jahrzehnte hatte er auf der Intensivstation zugebracht. „Der würd’ ich keine Langspielplatte mehr schenken“, meinte er zu mir, als ich eine Patientin mit Kreislaufversagen infolge einer Sepsis auf die Intensivstation übernehmen wollte. Und den Zustand eines Kranken, dessen Zittern und Halluzinationen ein beginnendes Alkoholentzugsdelir ankündigten, kommentierte er scherzend als „Mandolinenfieber“.

Fast alle Ärzte und Pfleger meinten, dass übertherapiert wird

Dass ökonomische Erwägungen auf ärztliches Handeln und Entscheiden Einfluss gewinnen, ist fast ein Allgemeinplatz. Doch dass Patienten auf einer Intensivstation aufgenommen werden, die ebenso auf einer Normalstation hätten behandelt werden können, ist allenfalls einem kleinen Teil der Öffentlichkeit bekannt. Deutschland verfügt über dreimal so viele Intensivbetten wie vergleichbare Länder, etwa die Schweiz, Frankreich oder Dänemark. Diese Betten wollen gefüllt sein, weil sie den Kliniken die höchsten Erträge bringen. Und womit sollte man die leeren Betten füllen, wenn nicht einerseits mit Patienten, die als „Leichtkranke“ einer Intensivstation überhaupt nicht bedürfen, und andererseits mit hoch betagten oder aussichtslos Kranken, für die der Aufenthalt auf einer Intensivstation nicht selten eher eine leidvolle Sterbeverzögerung als eine sinnvolle Lebensverlängerung bedeutet? Missbrauchsanreize in der Behandlung geriatrischer Patienten im Sinne einer unangemessenen Intensivbehandlung sind im Zeitalter der Fallpauschalen, der Zielvereinbarungen und Boni für leitende Ärzte nicht zu unterschätzen.

In einer Studie in neun Ländern Europas, darunter Deutschland, wurden Ärzte und Pflegepersonal von 82 Intensivstationen an einem Stichtag des Jahres 2012 gefragt, ob sie ihr ärztliches und pflegerisches Tun an eben diesem Tag angemessen fanden. Mehr als ein Drittel der Ärzte und mehr als ein Viertel der Pflegekräfte gab an, wenigstens einen Patienten wider ihre ethische und professionelle Überzeugung zu behandeln. Fast ausnahmslos waren die Teilnehmer der Auffassung, dass übertherapiert werde und das Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit nicht eingehalten sei, weil andere Patienten ein Intensivbett dringender benötigten.

Eindrucksvoll ist die Intensivmedizin, wenn sie sich auf ihren Auftrag besinnt

Es würde die Wirklichkeit der Intensivmedizin allerdings entstellen und wäre irreführend, würde ich ihre Erfolge und die glücklichen Momente, die sie Ärzten und Schwestern beschert, verschweigen. Überzeugend, eindrucksvoll und gewinnbringend für den Patienten ist Intensivmedizin dort, wo sie zu ihren Anfängen zurückkehrt und sich auf ihren Auftrag besinnt. Sie hat da zu intervenieren, wo sie ein krisenhaftes, potenziell begrenztes und beherrschbares Versagen von Organfunktionen überbrückt.

Beispiele hierfür sind in der Inneren Medizin die elektrische Behandlung akuter Rhythmusstörungen im Rahmen eines Herzinfarktes, die Dialyse bei Nierenversagen, die Therapie schwerer Infektionen oder die Beatmung von Patienten mit Vergiftungen; in der Chirurgie sind es die Überwachung von Patienten nach ausgedehnten Bauchoperationen oder nach neurochirurgischen Eingriffen.

Wiederbelebung, Beatmung, Elektroschockbehandlung des Herzens, künstliches Koma, Dialyse, Schrittmacher, Sondenernährung und vieles mehr sind große Leistungen der Medizin. Zahllose Menschen profitieren tagtäglich von ihr; sie sind mit ihrer Hilfe von schwerer Krankheit genesen. Diese Errungenschaften gilt es zu erhalten und weiterzuentwickeln für alle diejenigen, die eine Chance auf ein bewusstes und von ihnen selbst wertgeschätztes Weiterleben haben.

So wie bei Kasper L., der 28-jährig im psychotischen Wahn mit einer hohen Dosis blutdrucksenkender Tabletten einen Suizidversuch unternommen hatte. Die Mitbewohner seiner therapeutischen Wohngemeinschaft hatten ihn in äußerst kritischem Zustand aufgefunden, als sie spätabends von einem Theaterbesuch zurückkehrten. Sein Herz schlug nur noch langsam, sein Blutdruck war kaum messbar. Mit der bangen Frage, ob sein Hirn das überleben würde, übernahm ihn die Intensivstation. 23 Tage lang wurde er hier versorgt, 14 Tage davon im künstlichen Koma beatmet. Erst am dritten Tag war der Blutdruck auf 80 gestiegen. Alle nur denkbaren Komplikationen – eine Lungenentzündung, eine Beinvenenthrombose und bereits am dritten Behandlungstag ein akutes Nierenversagen, das eine Dialyse erforderte – hatte das Intensivteam zu bewältigen. Alle nahmen Anteil, alle schätzten seine Prognose als eher schlecht ein; bei jedem Schichtwechsel standen wir lange an seinem Bett. Dann, am 14. Tag, ließen wir das künstliche Koma ausklingen und erwarteten sein Erwachen. Und tatsächlich! Noch intubiert nickte er mit dem Kopf, als Schwester Irma ihn fragte: „Herr K., können Sie mich hören?“ Allein das kaum wahrnehmbare Nicken seines Kopfes – eine gezielte Antwort auf eine gezielte Frage – genügte, um sicher zu sein, dass sein Hirn überlebt hatte. „Das gibt's nicht!“, rief Irma freudestrahlend. Und nicht nur sie ging heute mit einem tiefen Gefühl der Zufriedenheit und der Überzeugung nach Hause, dass Intensivmedizin nicht nur Schattenseiten kennt.

Der Berliner Arzt Michael de Ridder ist Vorsitzender der Stiftung für Palliativmedizin. Der Text stammt aus seinem Buch „Welche Medizin wollen wir?“ Es erscheint am 16. März (DVA, 19,99 Euro).

Zur Startseite