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© dpa

Ausstellung: Der vermessene Europäer

Von der Schwierigkeit, EU-Bürger zu normieren: Ein Berliner Forschungsprojekt im Kreuzberg-Museum.

Wie wird eine italienische Speckspezialität zu einem Gegenstand der Forschung über europäische Identität? Der „Lardo di Colonnata“ lagert wochenlang in Marmortrögen; Karrees fetter Schweineschwarten werden abwechselnd mit einem Kräuter-Salz-Gemisch geschichtet. Als die Polizei 1996 eine Produktionsstätte stürmte, um die Tröge wegen Verstößen gegen die EU-Hygiene-Richtlinie stillzulegen, geriet Italien in Aufruhr. Schließlich aber siegte die Tradition, die Lardo-Herstellung wurde wieder erlaubt, und wie Spreewaldgurken ist er heute eines von über 700 geschützten traditionellen Lebensmitteln in der EU. Der Speck-Skandal steht aus der Sicht einer Forschergruppe um den Historiker Kiran Klaus Patel für den Normierungsdruck, der von der europäischen Einigung ausgeht.

„Lebensmittel für den Europäer“ ist ein Teilprojekt des vom Bundesforschungsministerium seit 2006 mit 1,2 Millionen Euro geförderten Forschungsvorhabens „Imagined Europeans. Die wissenschaftliche Konstruktion des Homo Europaeus“. Ein von dem damaligen Juniorprofessor an der Humboldt-Universität Patel geleitetes Team von Nachwuchswissenschaftlern hat sich mit der „Erfindung des Europäers“ beschäftigt. Einige Ergebnisse zeigen die Forscher jetzt in einer für die Wissenschaft ungewöhnlichen Präsentation: Kurz vor Abschluss ihres Projekts erzählen sie im Kreuzberg-Museum Berlin Geschichten über europäische Typisierung.

Eine einheitliche Identität, die von Europa-Politikern immer wieder beschworen wird, ist allerdings kaum zu haben. Das zumindest vermittelt die Ausstellung. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts sei es für die Kolonialherren ein Leichtes gewesen, europäische Identität zu definieren – in der Abgrenzung gegen die Nicht-Europäer etwa in Afrika. Unterschiedliche Tagesabläufe, andere Gewohnheiten in der Körperhygiene oder Ernährung: Die Überlegenheit der eigenen „Rasse“ schien auf der Hand zu liegen. Erläutert wird das in kurzen Texten und mit Exponaten wie der „Belehrung für Europäer an tropischen Orten ohne Arzt“.

Die Ausstellung versucht, weit auseinander liegende Phänomene der „Erfindung des Europäers“ zusammenzubringen. Der kolonialgeschichtliche Blick richtet sich auf Mentalitäten, die in Rassismus mündeten, aber auch auf Tropenmedizin. Der Schwerpunkt der Präsentation aber liegt auf der Normierung des Europäers, etwa im Lebensmittelrecht oder in der Autoindustrie. Eine der Installationen zum Thema Vermessung klärt über das Ärgernis der unterschiedlichen Konfektionsgrößen auf. Was in Deutschland die 38, ist in Frankreich eine 40 und in Großbritannien eine 12? Seit zehn Jahren werde über ein einheitliches System nachgedacht, erfährt man durch einen unterhaltsamen Radiotext an einer Audio-Station. Gezeigt wird, wie heute immerhin die „Europäische Norm EN ISO 7252“ aufgrund der „Augenhöhe sitzend“, der Rückenlänge und anderer Maße berechnet wird. Ein Lehrstück europäischer Bürokratie.

Ziel sei es gerade nicht, abschließend zu beantworten, was den Europäer wirklich ausmacht, sagt Patel. Mit seinen Kollegen aus Berlin, Leipzig und München wollte er vielmehr die ständige Neuerfindung des Europäers analysieren. Wie unmöglich heute eine klar definierte Identität des Europäers sei, werde schon sichtbar, wenn man aus dem Kreuzberg-Museum wieder auf die Adalbertstraße heraustrete: Die Menschen, die dort leben, kommen aus der ganzen Welt. Was helfen ihnen Arzneimittel, die Biowissenschaftler speziell für „Europäer“ entwickeln? Selbst die Berufung auf gemeinsame positive Werte wie Demokratie und Freiheit falle schwer, sagt Patel, der seit 2007 Professor am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz ist. Denn Europäer hätten keinesfalls stets und überall für diese Werte gestanden. Amory Burchard

Kreuzberg-Museum, Adalbertstraße 95 a; Mi. bis So. 12 bis 18 Uhr, Eintritt frei.

Amory BurchardD

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