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Leblos. Nur einige ausgestopfte Exemplare erinnern noch an die einst erfolgreiche Art der Wandertauben. Im 19. Jahrhundert lebten mehrere Milliarden Tiere in Nordamerika.

© IMAGO

Aussterben der Wandertaube: Marthas Vermächtnis

Vor 100 Jahren starb die letzte Wandertaube. Binnen kurzer Zeit rottete der Mensch die einst massenhaft vorkommenden Tiere aus. Das Ereignis markiert zugleich den Beginn des moderne Artenschutzes.

Als „Martha“ am Mittag des 1. September 1914 im Zoo von Cincinnati starb, endete eine faszinierende Erfolgsgeschichte der Evolution. Die Wandertaube, benannt nach der Ehefrau George Washingtons, war die letzte ihrer Art Ectopistes migratorius. Dass die Spezies so schnell ausgerottet wurde, überraschte selbst Biologen. Marthas Tod erregte großes Aufsehen und markiert den Beginn des modernen Artenschutzes.

3,5 Milliarden Vögel

Noch 1866 war ein unvorstellbar großer Schwarm Wandertauben in der Nähe von Toronto gesichtet worden. 14 Stunden dauerte es, bis die letzte Taube des rund 1600 Meter breiten und fast 500 Kilometer langen Zuges an einem Punkt vorbeiflog, fasste der auf Natur-Reportagen spezialisierte Journalist Jerry Sullivan Berichte aus dieser Zeit zusammen. Aus solchen Zahlen schätzen Wildbiologen heute, dass damals mehr als 3,5 Milliarden Wandertauben in diesem einen Schwarm flogen. Möglicherweise bildeten die Tiere sogar die am häufigsten vorkommende Vogelart Nordamerikas.

Bevor sich dort die Europäer ausbreiteten, war die gesamte Region von weiten Laubwäldern bedeckt, die den Wandertauben genügend Beeren, Würmer und Schnecken als Nahrung boten. Als später immer mehr Felder angelegt wurden, begannen die Vögel auch Feldfrüchte zu schätzen, vor allem Buchweizen.

Dutzende Nester auf einem Baum

Wo auch immer die Wandertauben hinzogen, waren sie in riesigen Schwärmen unterwegs. Im Frühjahr ließen sich die Tiere in gigantischen Kolonien nieder, die mitunter die Fläche des Saarlandes erreichten. In den Nestern, oft waren es Dutzende auf einem einzigen Baum, saß jeweils ein Jungvogel. Die Eltern fütterten ihn zwei Wochen lang. Dann hatte der Nachwuchs genug Fettreserven, um auf eigenen Flügeln unterwegs zu sein und die Eltern verließen das Nest. Ein paar Tage später flogen auch die Jungtiere aus. In der nächsten Saison suchte sich der Schwarm einen neuen Platz für eine Kolonie. Wenn überhaupt, kamen die Wandertauben erst nach einigen Jahrzehnten in eine frühere Kolonie zurück.

Das Nomadenleben bot dem Schwarm offensichtlich Schutz vor Feinden. Die holten sich zwar reichlich Eier und Jungvögel, wenn eine Kolonie erst einmal gegründet war. Da dort aber so viele Wandertauben lebten, kamen vermutlich 90 Prozent des Nachwuchses durch. In den nächsten Jahren blieben die Wandertauben aus und die Raubtier-Bestände wuchsen nie so stark an, dass sie den Bruterfolg gefährden konnten. Der Erfolg der Wandertauben beruhte also auf der großen Zahl der Vögel, die eng beieinander brüteten und so die im jeweiligen Gebiet lebenden Räuber ausbremsten.

Indianer verwenden das Fett der Tiere wie Butter

Vor der Ankunft der Europäer plünderten die Indianer zwar durchaus Wandertauben-Kolonien, wenn sich diese in der Nähe des Stammes niederließen. Das Fett der Jungvögel lagerten sie ein und verwendeten es wie Butter. Dezimieren konnten sie die Vogelschwärme aber anscheinend kaum, weil diese sich jedes Jahr eine neue Kolonie suchten.

Das System begann erst zu kippen, als sich die europäischen Siedler ausbreiteten. Sie rodeten große Waldflächen für ihre Äcker und Weiden und verkleinerten so den Lebensraum der Wandertauben. Dadurch dürfte sich der Bestand verringert haben. Zum Aussterben reichte das aber nicht. Das erledigten Jäger, die riesige Mengen von Vögeln erbeuteten.

Jungtiere aus dem Nest gestoßen

So stießen sie beispielsweise mit langen Stangen die Jungvögel aus den Nestern. Oder sie fällten einen Baum voller Nester so, dass er den nächsten Nistbaum gleich mit umriss und erschlugen die Vögel dann mit Stöcken. Manchmal verbrannten sie auch Schwefel unter den Bäumen und sammelten die von den entstehenden giftigen Dämpfen betäubten Tiere unter den Bäumen auf. Der Ornithologe Paul Ehrlich von der Universität Stanford hat ausgerechnet, dass ein einziger Jäger in seinem Leben mehr als drei Millionen Wandertauben tötete.

Über das immer dichtere Eisenbahnnetz wurden die erbeuteten Wandertauben in die großen Städte im Osten geschickt. An einem einzigen Tag wurden in New York bis zu 100 Fässer auf den Märkten für Lebensmittel verkauft, in denen jeweils 500 bis 600 tote Tauben lagen, berichtete Jerry Sullivan.

Martha wurde zum Symbol

Gingen die Bestände der Wandertaube in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts nur langsam zurück, brachen sie zwischen 1870 und 1890 fast schlagartig zusammen. Die großen Schwärme verschwanden. Brüteten aber erst einmal nur noch ein paar hundert Vögel, konnten die Raubtiere in der Nähe den Nachwuchs komplett verzehren.

Die Jagd ging indes weiter. Im März 1900 erschoss ein Junge im US-Bundesstaat Ohio die vermutlich letzte Wandertaube in der Natur. Die wenigen Tiere in Gefangenschaft legten ebenfalls keine Eier mehr. Als vor 100 Jahren Martha eines natürlichen Todes starb, war einer der erfolgreichsten Vögel in der Evolution endgültig Geschichte.

Das dramatische Aussterben der Wandertaube hatte in Nordamerika starkes Aufsehen erregt. „Die Wandertaube wurde zum Symbol für das vom Menschen verursachte Aussterben von Arten“, fasst der Ornithologe Norbert Schäffer vom britischen Vogelschutzverband RSPB die Bedeutung dieser Art zusammen. Bald wurden die ersten Gesetze erlassen, die unter anderem die Jagd und den Handel mit vielen Zugvogel-Arten verboten. Seither hat sich der Natur- und Artenschutz auch in vielen anderen Ländern etabliert.

Ob die Wandertaube jemals als Klon "wiederauferstehen" wird, ist derzeit sehr fraglich. Selbst wenn das gelingt, würde es wohl nur einige Vögel geben, die in Zoos leben. Ihr Leben dürfte mit dem ihrer Ahnen, die in riesigen Schwärmen umherzogen, wenig gemein haben.

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