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Autismus: Autistische Kinder lassen sich nicht durch Gähnen anstecken

Gähnen ist für manche Menschen mit sozialen Defiziten nicht ansteckend

Dass Gähnen ansteckend ist, ist bekannt - aber diese Regel gilt nicht für autistische Kinder. Diese Entdeckung könnte Licht in die sozialen Defizite, die Menschen mit Autismus haben, bringen.

Atsushi Senju vom Birkbeck College in London und seine Kollegen untersuchten die Wirkung ansteckenden Gähnens auf Menschen, die an Autismus leiden. Man geht davon aus, dass das "Anstecken" mit einen Gähnen zumindest teilweise auf der Fähigkeit zur Empathie beruht, die bei Menschen mit Autismus eingeschränkt ist.

Die Wissenschaftler zeigten 49 Kindern im Schulalter, von denen die Hälfte autistisch war, Videoclips von Leuten, die entweder gähnten, oder schlicht ihren Mund öffneten und schlossen.

Die gähnenden Gesichter lösten doppelt so häufig Gähnen bei nichtautistischen Kindern aus, als bei den autistischen, berichten sie in Biology Letters.(1) Beim Anblick der nicht gähnenden Gesichter gähnten jedoch beide Gruppen undifferenziert häufig, was besagt, dass der Unterschied nicht etwa daraus resultiert, dass nichtautistische Kinder generell öfter gähnen.

Die Studie wurde mit Kindern durchgeführt, da man davon ausgeht, dass sie seltener ein Gähnen bewusst unterdrücken als Erwachsene. Die Forscher nehmen allerdings an, dass autistische Erwachsene ebenfalls weniger empfänglich für ein ansteckendes Gähnen sind.

"Es ist ein weiteres Puzzleteil - dass Menschen mit Autismus Defizite bei bestimmten Arten der sozialen Kommunikation haben", sagt Steven Platek, Entwicklungspsychologe an der University of Liverpool, der über ansteckendes Gähnen gearbeitet hat. Die Studie bestätigt Plateks frühere Entdeckung, dass beim ansteckenden Gähnen dieselben Hirnareale involviert sind, wie bei der Empathie.(2)

Spieglein, Spieglein

Niemand weiß genau, warum Gähnen ansteckend ist, obwohl zahlreiche Theorien darüber existieren - darunter die Idee, dass Gähnen für einen kühlen Kopf sorgt und Alarmbereitschaft hervorruft, wodurch ganze Gruppen aufmerksam würden, wenn ein Individuum gähnt.

Unabhängig von der Frage nach dem Warum, bleibt die Frage, wie sich eine Person am Gähnen einer anderen "ansteckt". Einige Forscher sind der Ansicht, dass Spiegelneurone eine Rolle dabei spielen - Spiegelneurone sind Zellen des Gehirns, die zum einen aktiviert werden, wenn die betreffenden Person eine bestimmte Bewegung ausführt, zum Beispiel winken, aber auch, wenn diese Person dieselbe Bewegung bei anderen beobachtet. Dass Menschen andere so erfolgreich nachahmen können, wird auf funktionierende Spiegelneurone zurückgeführt, und man nimmt an, dass ihre Funktion bei Autisten eingeschränkt ist.

"Es ist möglich, dass ansteckendes Gähnen etwas mit Nachahmung zu tun hat", stimmt Senju zu. Er schränkt jedoch ein, dass man sich ein ansteckendes Gähnen eher "einfängt", als dass man es bewusst imitiert, so dass es möglicherweise nicht von einem System gesteuert wird, dass für freiwillige Aktionen zuständig ist.

Sieh mich an

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass autistische Kinder ein Gähnen nicht so leicht "übernehmen", weil sie sich auf andere Bereiche der Gesichter anderer Leute konzentrieren. Normalerweise schauen Menschen einander die meiste Zeit in die Augen, Autisten jedoch konzentrieren sich auf den Mund. Entgegen den üblichen Annahmen geht der stärkste Stimulus für ein ansteckendes Gähnen nicht vom geöffneten Mund, sondern von den halbgeschlossenen Augen des Gegenübers aus, erklärt Platek. Es könnte also sein, so Platek, dass autistische Kinder "das richtige Stichwort nicht mitbekommen, weil sie den falschen Teil der Geschichte lesen".

Selbst unter normalen Menschen ist es sehr wahrscheinlich, dass die Leute unterschiedlich reagieren, wenn in ihrer Nähe jemand gähnt. "Unter normalen Erwachsenen gibt es eine ganze Bandbreite an Reaktionen", meint Senju. Möglicherweise gibt es so etwas wie ein Kontinuum, an dessen extremem Ende Menschen mit Autismus - und möglicherweise andere mit ähnlichen sozialen Defiziten - liegen.

Senju und sein Team will als nächstes mehr über die Entwicklung des ansteckenden Gähnens bei Kindern herausfinden und die Grundlagen dieses Phänomens bei normaler Entwicklung untersuchen. Auf die Art wollen sie dazu beitragen, die Unterschiede in den Hirnfunktionen bei Patienten mit Erkrankungen wie Autismus aufzudecken.

(1) Senju, A. et al. Biol. Lett. doi:10.1098/rsbl.2007.0337 (2007). (2) Platek, S. et al. Brain Res. Cogn. Brain Res. 23, 448-452 (2007).

Dieser Artikel wurde erstmals am 15.8.2007 bei news@nature.com veröffentlicht. doi:10.1038/news070813-4. Übersetzung: Sonja Hinte. © 2007, Macmillan Publishers Ltd

Kerri Smith

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