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Gemeinsame Schule. Bremen ist bei der Inklusion weit vorne. Doch die Werkstufen an Berufsschulen gehen einen anderen Weg als viele Regelschulen in dem Bundesland.

© dpa

Behinderte in der Schule: Eine Insel im Bremer Inklusionsmeer

Bremen ist zwar Vorreiter bei der Inklusion von behinderten und nicht-behinderten Schülern. Aber es gibt auch noch einzelne sonderpädagogische Inseln. Zum Beispiel eine Berufsschulabteilung, in der Behinderte weitgehend unter sich bleiben und im Unterricht eine preisgekrönte Schülerzeitung produzieren.

Von allein hätte sich Michael Haag nie an dieses Thema herangetraut. Mit jungen Behinderten über „Euthanasie“ zu reden, über die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ durch die Nazis – das ist vielleicht zu belastend, dachte sich der Bremer Behindertenpädagoge. Bis kürzlich seine Schülerin Sabrina damit ankam. Die geistig behinderte 18-Jährige hatte im Fernsehen etwas über Hitler gesehen und wollte nun mehr wissen. Seitdem suchen Haags Schüler im Internet oder in Büchern nach Informationen über Nazis, ihre Opfer und ihre Gegner.

Wesentlicher Teil des Schulalltags: Eine Schülerzeitung

Projektarbeit: eigentlich nichts Besonderes in deutschen Klassenzimmern. Doch an Haags Schule, der sogenannten Werkstufe an der Bremer Berufsschule für Einzelhandel und Logistik, ist eine Sache anders. Fast alles, was die Elft- und Zwölftklässler im Unterricht erarbeiten, steht später in der Zeitung: in ihrem selbstgemachten „Rhododendron-Blatt“. Mehrfach wurde ihr Medium ausgezeichnet, zuletzt mit dem ersten Preis beim Schülerzeitungswettbewerb der Bundesländer in der Kategorie „Förderschulen“. Haag und der 18-jährige Reza durften kürzlich in Berlin den 1000-Euro-Scheck von Bundesrats- Präsident Stephan Weil (SPD) entgegennehmen. „Das war spannend, aber auch ein bisschen anstrengend“, sagt Reza.

Andernorts entstehen Schülerzeitungen in der Freizeit. In Haags Werkstufe ist die Produktion ein wesentlicher Teil des Schulalltags, neben der Schülerfirma „Papier-Falter“, die Kerzen oder Lichterketten herstellt und verkauft.

Ein Besuch bei den Jungredakteuren. Elf Jugendliche quetschen sich mit ihren pädagogischen Begleitern in die Polsterecke eines Klassenzimmers und klären, was am Vormittag ansteht. Ein Junge will der Frage nachgehen: „Gibt es einen Gott?“ Ein Mädchen forscht zu Schmetterlingen und will daraus etwas für die Zeitung machen. Nur wenigen ist anzusehen, dass sie geistig oder schwer mehrfachbehindert sind.

Euthanasie - kann man das mit behinderten Schülern besprechen?

Als Haag das Nazi-Thema anspricht, geht einer lieber nach nebenan und arbeitet an seinem Artikel über Ringeltauben. Aber die anderen rufen sofort „Ja“, als der Lehrer fragt: „Sollte man offen über dieses Thema reden?“ Es wird ein bewegendes Gespräch. „Auch wenn wir behindert sind, haben wir ein Recht auf Leben“, sagt einer. Er hat Angst, „dass das noch mal passiert“. Ein anderer sagt: „Wenn die Nazis über fünf Prozent kommen, sind sie im Bundestag.“ Und ein Dritter glaubt: „Ich wäre damals auch ermordet worden.“

Nach dem Morgenkreis arbeitet jeder an seinem eigenen Artikel. Während Reza Bilder über ein Computerspiel ausschneidet, sucht Sabrina im Internet nach Hitler-Fotos. Am Rechner neben ihr tippt Tobias: „Adolf Hitler wollte ein Großes und Mächtiges Deutschland haben, da pasten ihm Behinderte und Kranke Menschen nicht rein weil er dachte das diese Menschen schwach sind.“ Haag wird den Text später korrigieren, damit sich die Schüler das richtige Schriftbild einprägen und so nebenbei Rechtschreibung lernen.

Der Schüler Reza arbeitet an einem Text für die mehrfach preisgekrönte Schülerzeitung.
Ausgezeichnet. Der Schüler Reza arbeitet an einem Text für die mehrfach preisgekrönte Schülerzeitung.

©  Eckhard Stengel

Der 62-Jährige mit dem weißen Rauschebart wird auch das „Euthanasie“-Gespräch zu Papier bringen, das er mit dem Diktiergerät mitgeschnitten hat. Nach gemeinsamer Überarbeitung wird es im nächsten „Rhododendron-Blatt“ dokumentiert.

Haag macht das öfter so. „Ich bin dann die Schreibmaschine der Schüler“, sagt er. Denn nicht alle können selber gut schreiben. „Aber sie haben alle etwas zu sagen.“ Zum Beispiel Marcel. Bei einer Klassenfahrt nach Norderney war er so vom Meer und von einem Mädchen beeindruckt, dass er ins Philosophieren geriet. Haag nahm alles auf, und heraus kamen zwei Seiten Gedicht („Marcels eigene Weise, wie er die Menschen-Evolution erklärt“). Eine Kostprobe: „Früher, da gab’s kein Norderney. Das ist neu entstanden. Es gab kein Meer und keine Aylin“.

Die Themen liefert das Leben und nicht der Lehrer

Wer nicht reden oder schreiben möchte, kann Fotos oder Zeichnungen beisteuern. Die 2003 gegründete Zeitung erscheint im DIN-A-3-Format, zu jedem Halbjahresende. Sie wird bis zu hundert Mal am Schulkopierer vervielfältigt und auch ins Internet gestellt.

Die Themen liefert das Leben und nicht der Lehrer. Als der Vater einer Schülerin an einem Tumor erkrankte, interviewten die Behinderten ihn und seine Ärztin. Einer forschte fast anderthalb Jahre lang über Zwangsehen und präsentierte seine Ergebnisse als Protokoll einer imaginären Talkshow, in der sich Experten und Betroffene äußern. Einmal beteiligten sich die Behinderten an der Übersetzung der Menschenrechtskonvention in verständlicheres Deutsch („Die Menschen-Rechte in Leichter Sprache“).

Aber auch Alltägliches wird zu Papier gebracht: „Fahrräder reparieren“, „Rezepte ohne Eiweiß“, „Betreutes Wohnen“. So kommen pro Ausgabe locker 88 Seiten zusammen. Das macht die Jugendlichen stolz, stärkt ihr Selbstbewusstsein und hilft ihnen im späteren Leben, ist Haag überzeugt. Zwei Ehemalige, Murat und Mesut, sind ein Beweis dafür. Die 20-jährigen Zwillinge, die heute die Homepage des Blattes betreuen, lassen sich inzwischen zu „Fachpraktikern für Bürokommunikation“ ausbilden. Beim Zeitungmachen „haben wir viel Allgemeinwissen und Selbstständigkeit gelernt“, sagen sie. Und dass sie jetzt besser schreiben könnten, helfe ihnen auch.

Ein Biotop kommt in einen Massenbetrieb - kann das zusammenwachsen?

Die preisgekrönte Ausgabe des „Rhododendron-Blatts“ behandelt auch die Frage „Inklusion – was ist das?“ Gute Frage. Es ist jedenfalls nicht das, was an Haags Schule praktiziert wird. „Der Begriff Inklusion kommt vom lateinischen Wort inclusio. Es bedeutet Einschluss“, schreiben die Jungredakteure. Eigentlich gilt Bremen als Inklusionsvorreiter. Seit 2010 werden fast alle Förderzentren nach und nach aufgelöst. Die meisten Kinder mit Behinderungen lernen nunmehr in Inklusionsklassen an Regelschulen. Auch die Sonderpädagogen der einstigen Förderzentren werden inkludiert: Sie unterstützen jetzt stundenweise die Lehrkräfte der Inklusionsklassen.

68,5 Prozent der Bremer Kinder mit Förderbedarf werden inklusiv beschult

Von den 3200 Bremer und Bremerhavener Kindern mit Förderbedarf werden derzeit 68,5 Prozent inklusiv beschult, überwiegend an Oberschulen (Gesamtschulen). Das ist Spitze. Der Bundesschnitt lag im Vorjahr bei 28,2 Prozent.

Bremen vorn – aber nicht bei den wenigen Werkstufen wie hier an der Berufsschule für Einzelhandel und Logistik. Bis 2011 gehörten Haags Schüler zu einem Förderzentrum am Bremer Rhododendronpark und kooperierten dort mit allgemeinbildenden Schulen. Dann kam die Inklusionswelle und schwappte sie hinüber zur Berufsschule. Dort warteten aber keine Inklusionsklassen auf sie, sondern weiterhin eigener Unterricht, angereichert durch einzelne Kurse oder Projekte mit den regulären Berufsschülern: Sport, Erste Hilfe, Schulgarten. Also Kooperation statt Inklusion.

Der kommissarische Schulleiter Peter Bednarzick ist ohnehin skeptisch, ob an seiner Schule echte Inklusion überhaupt möglich wäre. Gemeinsame Klassen würden allein schon daran scheitern, dass die Behinderten von montags bis freitags hier sind und die Berufsschüler nur an zwei Tagen pro Woche, sagt er.

Zwei Kulturen stießen aufeinander, jetzt verschmelzen sie

Als die Berufsschule um die Behinderten-Werkstufe erweitert wurde, stießen zwei Kulturen aufeinander: ein Massenbetrieb mit 1200 Auszubildenden – und ein Biotop aus zwei Dutzend Behinderten mit engen Bindungen zu ihren Pädagogen. „Inzwischen verschmelzen diese beiden Kulturen“, sagt Bednarzick: „Wir nehmen Rücksicht aufeinander, es funktioniert.“ Ganz ohne Widerstände bei den Lehrkräften. „Die Kolleginnen und Kollegen empfinden das als Bereicherung.“

Der Leiter hat bisher auch nichts Kritisches von Eltern gehört. „Dass in der Werkstufe die Lebenswirklichkeit im Vordergrund steht, wird sehr gut angenommen.“ Für Haag ist die Werkstufe „eine sonderpädagogische Insel – eine sehr schöne und erfolgreiche“. Dass das entdeckende Lernen per Zeitungsproduktion so gut funktioniert, ist freilich kein Beweis dafür, dass behindertengerechtes Lernen nur in Schonräumen möglich ist. Denn Haags Unterrichtsmodell könnte so ähnlich auch in Inklusionsklassen ablaufen.

Inklusion habe dann eine gute Chance, wenn die Regelschulen bereit sind, die Förderschüler nicht nur aufzunehmen, sondern sich als lernende Organisation mit ihnen zu verändern, sagt Haag. „Aber bis dahin ist der Weg noch recht weit.“

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