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Checkpoint Charlie mit Kontrollhäuschen aus dem 1960er Jahren.

© Thilo Rückeis

Berlin inszeniert seine Geschichte: Die Attraktion der Schattenorte

Topographie des Terrors, Bunker und der Checkpoint Charlie: Berlin gilt als „Rom der Zeitgeschichte“, bei Touristen kommt das Histotainment gut an. Welches Bild dabei vermittelt wird, analysiert der Potsdamer Historiker Hanno Hochmuth in einem Gastbeitrag.

Wenn tagtäglich tausende Touristen durch die Stadt ziehen, lässt das die Geschichtswissenschaft nicht unbeeindruckt. Historiker beschäftigen sich nicht nur mit der Geschichte des Reisens. Auch der aktuelle Geschichtstourismus spielt eine zentrale Rolle – als Teil der Public History. Ein besonderes Augenmerk gilt dem Zusammenhang von Vergangenheit und Image der Stadt: Wie lässt sich die große Anziehungskraft historisch belasteter Orte erklären? Das Reisen an Orte, die mit Tod, Leiden und Grauen assoziiert werden, wird als Dark Tourism bezeichnet.

Berlin ist da ein Spitzenreiter. Das zumindest zeigt ein etwas obskur anmutendes Ranking auf der Webseite www.dark-tourism.com. Hinter Auschwitz, Tschernobyl und Hiroshima findet sich Berlin auf Platz vier – vor den Erinnerungsstätten an den Genozid in Ruanda und vor dem Atomwaffentestgelände Semipalatinsk in Kasachstan. Berlin sticht aus dieser Liste hervor. Es ist der einzige Ort, der nicht eindeutig durch die dunklen Seiten der Geschichte dominiert wird. Die deutsche Hauptstadt ist vielmehr ein „Schattenort“, der – um im Bild zu bleiben – Schatten als auch Licht aufweist.

Topographie des Terrors: Verschüttetes wurde aufgedeckt

Schattenorte entstehen nicht allein durch dramatische historische Ereignisse, sondern dadurch, dass den dunklen Orten des Geschehens auch öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wird. Dies lässt sich an der Gedenkstätte „Topographie des Terrors“ nachvollziehen. Wo sich die Hauptquartiere der Gestapo, der SS und des Reichssicherheitshauptamtes befanden, war in den ersten Nachkriegsjahrzehnten nichts mehr zu sehen. Die nach Kriegszerstörungen geräumte Brache diente als Autodrom zum Fahren ohne Führerschein.

Erst Ende der siebziger Jahre deckten die Berliner Geschichtswerkstatt und andere Initiativen die Geschichte der nationalsozialistischen Terrorzentrale auf. Zur Internationalen Bauausstellung von 1984/87 entstand im „zentralen“ Bereich an der Mauer eine Geschichtslandschaft. Ausgrabungen gaben 1985/86 Teile der ehemaligen Folterkeller frei. Dies hatte vor allem eine symbolische Dimension, denn die Kellermauern gaben nur wenige Informationen preis. Es ging um die Aufdeckung des Verschütteten und die besondere Kraft authentischer Spuren, mochten sie materiell auch noch so unbedeutend sein. 1987 gestaltete der Historiker Reinhard Rürup auf dem Gelände eine erste Ausstellung.

"Warum hat Hitler eigentlich die Mauer gebaut?"

Der Fall der Berliner Mauer trug auf doppelte Weise zum Erfolg dieses Ortes bei. Zum einen gesellte sich das von Mauerspechten durchlöcherte Relikt zu den Überresten des NS-Terrorapparats. Beide deutschen Diktaturen sind so auf engstem Raum „erfahrbar“, was manche Touristen überfordert: Legendär sind interessierte Nachfragen, warum Hitler eigentlich die Mauer gebaut habe. Zum anderen rückte die Topographie des Terrors mit dem Mauerfall geografisch und geschichtspolitisch ins Zentrum der Berliner Erinnerungskultur. Entgegen vielfältigen Befürchtungen zu Beginn der 1990er Jahre wollte die Berliner Republik die „Schattenorte“ der deutschen Geschichte nicht vergessen, sondern stellte sie in Gestalt einer neuartigen Schamkultur in den Mittelpunkt des eigenen Selbstverständnisses.

Kein anderer Ort demonstriert dies stärker als das Denkmal der ermordeten Juden Europas, das ursprünglich an der Stelle der Topographie des Terrors geplant war. Im Gegensatz zum Prinz-Albrecht-Gelände ist der dann gewählte Standort kein „authentischer“ Schattenort. Doch befand sich nur wenige Meter entfernt der sogenannte „Führerbunker“, an dem Hitler am 30. April 1945 Selbstmord begangen hat. Zahllose Stadtrundgänge führen zu dem unscheinbaren Parkplatz, der sich heute dort befindet, und zu einer nüchternen Informationstafel. Die Eingänge wurden 1987 gesprengt. Die Reste des Bunkers bleiben der Öffentlichkeit verschlossen, um keinen Wallfahrtsort für Neonazis zu schaffen. Der versiegelte Ort der Täter verschwindet symbolisch neben dem zentralen Ort des Gedenkens an die Opfer.

Unterhaltsame Unterwelten-Tour am Gesundbrunnen

Andere NS-Bunker erfreuen sich dagegen großer Beliebtheit. Der Verein Berliner Unterwelten bietet seit Jahren Führungen durch Bunkeranlagen an, die zum Großteil aus der NS-Zeit stammen. Die Standard-Tour führt durch den „Bunker B“ im U-Bahnhof Gesundbrunnen. Sie informiert über die Luftangriffe auf Berlin und das Leben in den Luftschutzbunkern, aber auch über das alte Rohrpostsystem und Brauereiwesen. In die engagierte Führung sind stets unterhaltsame Elemente eingebaut. In einem Raum, der mit fluoreszierender Farbe gestrichen ist, können sich die Besucher vor der Wand aufstellen. Dann wird für einen Moment lang eine Taschenlampe auf sie gerichtet, sodass ihre Schatten für kurze Zeit fixiert werden. Auf bildliche Weise schreiben sie die Besucher so in einen „Schattenort“ ein.

Grundsätzlich gilt im Berliner Geschichtstourismus: „Histotainment“ ist gefragt. Bei den Unterwelten kommt ein Aspekt hinzu, der für viele Berliner Dark Sites nicht unwesentlich ist: die Faszination am Größenwahn nationalsozialistischer Architektur. Die megalomanen Bauprojekte Albert Speers lösen bei vielen Besuchern einen unheimlichen Schauer aus. Die Beschäftigung mit der NS-Architektur erlaubt eine offene, ins Technische verlagerte Faszination für das Regime.

Opfergeschichten spielen bei den Bunkerführungen eine Nebenrolle

Trotz eingestreuter rhetorischer Distanzierung von den größenwahnsinnigen Germania-Plänen stören in der Regel keine Opfergeschichten die Beschäftigung mit dem heiklen Thema. Hinweise auf die Zwangsarbeiter, die die meisten Bunkeranlagen erbauen mussten, verdüstern das Bild zwar ein wenig, wirken aber wie eine Referenz an die öffentlich geförderte, opferzentrierte Erinnerungskultur.

Mindestens ebenso wichtig sind die „Schattenorte“ des Kalten Krieges und der deutschen Teilung. Der Checkpoint Charlie steht wie kein anderer Ort für die globale Systemkonfrontation. Touristen kommen mit einem medial geprägten Vorwissen. Sie kennen die Aufnahmen der Panzerkonfrontation vom Oktober 1961, die einen dritten Weltkrieg hätte auslösen können, und wollen die ikonografischen Bilder am authentischen Ort abgleichen. Und so dominiert am Checkpoint das Paradigma der historischen Rekonstruktion, das auf die Nachahmung des früheren Zustands zielt. Daher musste das Kontrollhäuschen in Form der frühen 60er wieder aufgebaut werden – so wie es von den Aufnahmen der Panzerkonfrontation bekannt ist, und nicht etwa in Gestalt der ausgebauten Grenzanlagen späterer Jahre.

Die Geschichte wird möglichst plastisch erfahrbar gemacht – was auch den geschichtspolitischen Intentionen der Gründer des Mauermuseums am selben Ort folgt. Es wurde durch den Menschenrechtsaktivisten Rainer Hildebrandt gegründet und war von vornherein auch ein wichtiger Anlaufpunkt für die Fluchthilfe. Seit der Gründung besitzt die Ausstellung einen anklagenden Gestus gegen das SED-Regime. Bis heute atmet das Museum den Geist des Kalten Krieges, was zahlreiche Debatten ausgelöst hat.

Die "Lichtgrenze": Schattenorte als globale Erlebnisorte

Bemerkenswert ist, dass in der Regel keine staatlichen, häufig auch keine akademischen Akteure, sondern Aktivisten mit einer (geschichts-)politischen Agenda die Gedenkstätten entwickelt haben. So haben alternative Projekte zur Touristifizierung Berlins als „Rom der Zeitgeschichte“ beigetragen. Mit Blick auf die großen kommerziellen Potenziale des Berliner Geschichtstourismus treibt die landeseigene Kulturprojekte Berlin GmbH die Eventisierung der Geschichtskultur weiter voran. Im dichten Takt der Jahrestage werden die „Schattenorte“ als globale Erlebnisorte inszeniert: Nichts zeigt dies so deutlich wie die Lichtgrenze, die zum 25. Jahrestag des Mauerfalls entlang des früheren Grenzverlaufs installiert wurde.

Die Berliner „Schattenorte“ sind unterschiedlich „authentisch“ – nicht im objektiven Sinne, sondern in ihrem Umgang mit der historischen Authentizität. Während die Topographie des Terrors und die Mauergedenkstätte in der Bernauer Straße ihre authentische Aura aus sorgfältig konservierten Überresten der historischen „Schattenorte“ beziehen, zielen die Außenanlagen am Checkpoint Charlie auf die „authentische“ Rekonstruktion des vertrauten Erscheinungsbildes.

Beide Ansätze kommen gleichermaßen gut bei den Touristen an. Es ist die „Erfahrung“ historischer Authentizität, die das „Erlebnis“ einer dunklen Vergangenheit ermöglicht und den Erfolg der „Schattenorte“ ausmacht. Die eigentümliche Kraft des Authentischen steht im Mittelpunkt des neuen Leibniz-Forschungsverbunds Historische Authentizität, in dem 17 außeruniversitäre Forschungseinrichtungen untersuchen, woher die Sehnsucht nach der Vergangenheit stammt. Damit fragt die Forschung letztlich nach dem Selbstverständnis unserer Gegenwart.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Der Text basiert auf einem Vortrag für die öffentliche Tagung „Schattenorte. Stadtimage und Vergangenheitslast“.

Hanno Hochmuth

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