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Gewunden. Die Bibliothek der BTU Cottbus hat keinen klassischen Lesesaal mehr.

© picture-alliance / ZB

Bibliotheken im 21. Jahrhundert: Superdome des Wissens

Die digitale Revolution erfasst die Bibliotheken. Doch hinweggefegt werden sie von ihr nicht, prognostiziert Andreas Degkwitz, Direktor des Grimm-Zentrums der Humboldt-Universität.

In Zeiten technischer Innovation sind oft noch nicht die Worte gefunden, mit denen das „Neue“ beschrieben oder bezeichnet wird. Von daher bleibt nichts anderes übrig, als den neuen Wein in alten Schläuchen zu transportieren, auch wenn das „Alte“ das „Neue“ auf diese Weise gar nicht mehr zu fassen vermag. Auf der sprachlichen Ebene haben wir damit die Ebene der Metapher beziehungsweise der Übertragung von Bedeutung erreicht. So gesehen leben wir nicht nur in einer Zeit der technischen Übertragung von Daten und Informationen, sondern eben auch in einer Zeit der Metapher.

Das Wort „Bibliothek“ ist dafür ein sehr gutes Beispiel. Denn was haben der Ordner „Bibliothek“ auf unserem Desktop oder die Gen- oder Softwarebibliotheken mit der Einrichtung zu tun, die über Jahrhunderte als Schatzkammer des Wissens oder als Gedächtnis der Menschheit „Bibliothek“ genannt wird? Allein die auf Dauer angelegte Verwahrung scheint die Bezeichnung „Bibliothek“ noch zu rechtfertigen – vom „Büchergestell“ findet sich keine Spur! Aber wie sollen wir dergleichen anders bezeichnen als „Bibliothek“? Noch fehlt uns das richtige Wort.

Was an dieser Stelle auseinanderdriftet, findet sich an Beispielen jüngster Bibliotheksarchitektur. Form und Funktion lösen sich voneinander und haben den Namen „Bibliothek“ teilweise aufgegeben. Das Informations-, Kommunikations- und Medienzentrum (IKMZ) der BTU Cottbus ist so ein Beispiel. Das von Herzog&de Meuron 2001 bis 2004 errichtete Gebäude, das mit seinem amöbenartigen Grundriss einen geschwungenen Solitär in den Konturen einer Alvar-Aalto-Vase darstellt, beherbergt die Bibliothek der Cottbusser Universität, ohne dass das Gebäude die Architekturmuster einer (traditionellen) Bibliothek aufweisen würde. Das sind: Lesesaal und Magazin.

Vielmehr treten Nutzer in ein schrill wirkendes Meer von Spektralfarben ein, aus dem heraus eine Guggenheim-Treppe zu Bücherregalen, Arbeitsplätzen und zu Event- und Kommunikationsflächen führt. Allein die mit Buchstaben aller Alphabete verpixelte Glasfassade mag auf die Funktion des Hauses als Bibliothek verweisen. Etwas überspitzt ließe sich sagen, dass auf dem, was auch immer IKMZ ist und bedeutet, das Label „Bibliothek“ im wahrsten Sinne des Wortes steht, so dass der Besucher das IKMZ bewundert, doch erst mit den Buchstaben auf der Fassade das Haus als Bibliothek verstehen kann.

Einen fast konträren Weg geht das Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin. Als dessen architektonisches Leitmotiv ist das „Büchergestell“ zu erkennen. Der Charakter dieses „Gestells“ setzt sich nicht nur in den streng symmetrischen Rastern des Gebäudes um, sondern wirkt bis in die Anlage des terrassierten Lesesaals fort.

Auf den ersten Blick wird im Grimm-Zentrum der Beweis angetreten, dass „Bibliotheken“ unabhängig von allem Medienwandel weiterhin „Bibliotheken“ sind. Der zweite Blick in das architektonische Herz des Gebäudes zeigt, dass die Leseterrassen zwar von Buchbeständen umgeben, doch dort selbst keine Buchbestände zu finden sind, sondern Lesende, Forschende, Lernende gleichsam als Akteure auf die Regale des Wissens stellen. Mit einer solchen „Living Library“ gehen Form und Funktion eine Symbiose ein. Diese wird vor dem Hintergrund ihrer traditionellen Verbindung auch zur Metapher, in dem wir – PC- und iPhone-bewehrt – anstelle von Büchern in den „Büchergestellen“ sitzen: IT-gestützte, vernetzte Wissensgesellschaft im Rahmen des bibliophilen Paradigmas. Nicht zuletzt wird diese Metapher mit der Benennung des Zentrums nach den Universalgelehrten des buchintensiven 19. Jahrhunderts Jacob und Wilhelm Grimm deutlich verstärkt.

Die aktuelle Architektur weist Bibliotheken stärker als je zuvor eine Rolle als soziale Räume für Information und Wissen zu. Sie ermöglichen das Zusammenspiel unterschiedlicher Medienformate. In ihnen erleben sich Leser, Surfer und Talker als Flaneure des Wissens. Ein Anreiz ist dabei das Spannungsfeld von Individualität, Sozialität, Ubiquität und Vereinsamung. Allerdings repräsentiert Bibliotheksarchitektur auch Wissensverständnis, so dass sich gerade im Wandel von gedruckten zu digitalen Medien die Frage nach dem Auftrag von Bibliotheken stellt.

Seit einigen Jahrtausenden lagern wir unser Gedächtnis zunächst an die Technik der Schrift, dann an beschriftete Trägermedien (Papyrus, Pergament, Papier) und nun an Computer, Netze und Software aus. Indem wir Verarbeitung, Verbreitung und Speicher auf Server und Netze auslagern, können wir uns leisten, in einem Umfang auszulagern, der uns bisher nicht zur Verfügung stand.

Aber: Was machen wir mit diesen neuen Maschinen? Was machen diese Maschinen mit uns? Ob der Wandel vom Pergament zum Papier, von der Handschrift zum Buchdruck, von der Schrift zum Text ein größerer war, als der von Druckwerken zu Maschinen und von Texten zu Daten? Gravierend ist der Medienwandel auf jeden Fall und ist ähnlich den Etappen, die ihm vorausgingen, mit einem neuen Wissensverständnis verbunden. Das konfrontiert uns mit dem Thema der Informationsflut. Wir haben einen schier unbegrenzten Zugang zu „Wissen“, sehen uns aber kaum in der Lage, dieses „Wissen“ zu rezipieren. Wahrscheinlich verstehen wir unser Unvermögen besser, wenn wir nicht von Wissen, sondern mehr von Informationen und noch besser von Daten sprechen, deren Fülle zu verarbeiten uns in jeglicher Hinsicht überfordert.

An dieser Stelle hilft uns das Potenzial der neuen Kulturtechnik, Gedächtnis- und Verarbeitungsleistungen in ungekannten Umfang auslagern zu können. So übertragen wir die Verarbeitung von Daten sowie deren Recherche und Speicherung an Server, Software und Netze. Es stellt sich die Frage, zu welchem Verständnis von Wissen diese Kulturtechnik führt. Denn dabei geht es weniger darum, theoriebasiertes Wissen hervorzubringen. Vielmehr führen die datengestützten Verfahren zu empirischer Forschung, für die Analyse und Auswertung ermittelter Daten kennzeichnend sind. Mithilfe von Maschinen werden Daten recherchiert, prozessiert und evaluiert, um so Aufschlüsse und Antworten zu empirischen Fragestellungen zu gewinnen.

Dabei geht es über die Fragestellungen der klassischen Erfahrungswissenschaften (Medizin, Natur- und Ingenieurswissenschaften) hinaus verstärkt um geistes- und sozialwissenschaftliche Forschungen, die auf diesem Wege historische Zusammenhänge rekonstruieren, aktuelle Entwicklungen analysieren und künftige Szenarien prognostizieren. So eröffnen sich neue Forschungsfelder, die früher nicht hätten bearbeitet werden können.

Linguistische Forschungen können durch Ton- und Textdokumente ergänzt werden. In den Kunstwissenschaften werden epochen- und standortübergreifende Bildvergleiche möglich. Die Simulation von Artefakten kann Gemälde, Gebäude oder Skulpturen virtuell rekonstruieren. In den Geschichtswissenschaften lassen sich mit digitalisierten Urkunden, Bildern, Büchern, Gegenständen und Filmen historische Entwicklungen in allen Lebensbereichen vielfältig belegen. Damit hat sich das Wissensverständnis zu einer datengestützten Empirie gewandelt, die auch in Fachdisziplinen, die bisher eher theorieorientiert agierten, den textbezogenen, spekulativen Ansatz von Theorie in den Hintergrund drängt.

Wie lassen sich die Ergebnisse und die sie begründenden Datenbestände in ihrer Komplexität rezipieren? Daten können weder aggregiert noch ausgewertet werden, wenn sie nicht „ins Bild“ gesetzt – also in einen Kontext gesetzt werden, der, wie es Bilder vermögen, Komplexität veranschaulicht. Auf dem Gebiet maschinenlesbarer Daten werden Schrift und Text ersetzt, durch das „Bild“. Es begegnet uns in Diagrammen, Grafiken bis hin zu komplexen Simulationen.

Die Zukunft des Wissens wird eher weniger gedruckte Bücher und Zeitschriften kennen. Texte stehen digital zur Verfügung und werden ausgewertet, aber immer weniger im besten Sinne des Wortes „gelesen“. Das künftige Wissen wird ein kollaboratives, verlinktes Kontinuum sein, in dem medial viel mehr vorgehalten und partizipiert werden kann, als es papiergebundenes Wissen je ermöglichte.

Wird es in Zukunft noch Bibliotheken geben – „richtige“ Bibliotheken? Die Bereitstellung und Verfügbarkeit digitaler Daten und Inhalte benötigt in der Tat keine Gebäude. Bibliotheken mögen dann auf „Wolke 7“ oder gar in „Wolkenkuckucksheim“ lokalisiert sein – also auf jeden Fall in einer Sorte „Cloud“.

Doch so recht glauben mag man das nicht. Persönlich habe ich große Zweifel, ob die europäische Tradition des akademischen Diskurses ihr „Domizil“ aufgeben möchte, zu dem auch die Bibliothek gehört. Anders gesagt: In der europäischen Geistesgeschichte vollzog sich vieles über den Wolken und dennoch hat man Kirchen gebaut. Für welchen „Kult“ auch immer wurden und werden stets der Öffentlichkeit zugängliche Orte benötigt – neben Domen, Kathedralen, Kirchen, Residenzen, Museen, Theatern, Bahnhöfen, Banken, Kaufhäusern, Sportstadien gehören dazu auch Bibliotheken als „Superdomes of Knowledge“. Mich lässt die Vermutung nicht los, dass sich dies fortsetzen wird, auch wenn die Wolke des Wissens solche Räumlichkeiten nicht erfordert. Doch die Wissensgesellschaft sind wir, und wir als Europäer brauchen und wollen den Ort, der uns Gemeinschaft und Verwandlung spüren lässt.

Der Autor ist Direktor der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität. Unter dem Motto „Bibliotheken – Tore zur Welt des Wissens" findet der 101. Deutsche Bibliothekartag ab dem heutigen Dienstag in Hamburg statt.

Andreas Degkwitz

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