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Bildung: Die Welt begreifen

Frühkindliche Bildung beginnt in der Krippe. Aber noch werden zu wenige Erzieher an Hochschulen ausgebildet.

Bildung fängt an mit Schreiben, Lesen und Rechnen in der Schule – das galt lange in Deutschland. Bildung auch im Kindergarten? Das war ein Tabu. Nach dem deutschen Sozialgesetzbuch dient der Kindergarten der Fürsorge und Betreuung. Dass die Bildung aber bereits mit der Geburt beginnt, ist eine Erkenntnis, die sich erst jetzt langsam durchsetzt. Heute gilt: Schon in der Kinderkrippe sollen die Null- bis Dreijährigen gefördert werden. Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen hat dies seit Beginn ihrer Amtszeit zum großen Thema gemacht. Was allerdings noch weitgehend fehlt, sind hochqualifizierte Erzieher und Erzieherinnen.

Von der Leyens ehrgeiziges Ziel ist es, bis zum Jahr 2013 bundesweit für 35 Prozent der Kinder unter drei Jahren Betreuungsangebote zu schaffen. Ein Milliardenprogramm wird aufgelegt, um 500 000 neue Plätze in Kindertageseinrichtungen anbieten zu können. Denn nur Städte und Gemeinden in Ostdeutschland sind ausreichend mit Krippenplätzen ausgestattet. Aus der DDR-Zeit haben sich noch Betreuungsplätze für ein Drittel bis teilweise die Hälfte der Kinder erhalten. In den Ländern der alten Bundesrepublik gibt es dagegen nur Plätze für fünf bis maximal 21 Prozent. Beim großangelegten Krippenprogramm geht es nicht nur um den Bau von Tagesstätten, geplant ist auch die Qualifizierung von 50 000 Erzieherinnen.

In vielen europäischen Ländern werden Frühpädagogen seit Jahren an den Hochschulen ausgebildet. Auch die OECD als Organisation der führenden Wirtschaftsnationen der Welt empfiehlt für die Erzieher eine akademische Ausbildung. In Deutschland aber lernt die überwiegende Zahl der Erzieher noch immer an der Fachschule. Bei einer Tagung in der Katholischen Akademie in Berlin aber zeigte sich kürzlich, dass sich durchaus etwas bewegt bei der Professionalisierung der Erzieherausbildung. Die Robert-Bosch-Stiftung stellte ihr Programm „Pik“ vor; das Kürzel steht für „Profis in die Kitas“.

Mit fünf Hochschulen in Deutschland erarbeitet die Stiftung derzeit ein Kerncurriculum für die akademische Ausbildung von Frühpädagogen. Beteiligt sind die Berliner Alice-Salomon-Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, die Universität Bremen, die Technische Universität Dresden, die Fachhochschule Koblenz und die Evangelische Fachhochschule Freiburg. In dieser Runde hatte die Alice-Salomon-Fachhochschule eine Vorreiterrolle. Bereits 2004 eröffnete sie den Bachelor-Studiengang „Erziehung und Bildung im Kindesalter“, der sieben Semester dauert und pro Durchgang vierzig Studierende qualifiziert. Der Start 2004 war insofern eine Pionierleistung, als sich die Kultusministerkonferenz noch 2000 auf eine Rahmenvereinbarung geeinigt hatte, in der die Erzieherausbildung Fachschulen zugewiesen wurde – und keineswegs Hochschulen.

Dass der Weg der Berliner Fachhochschule und anderer richtig war, zeigt der Erfolg der Studiengänge. „Die Absolventen werden uns aus den Händen gerissen“, sagt die Leiterin des Studiengangs an der Salomon-Fachhochschule, Hilde von Balluseck. Inzwischen ist der Berliner Studiengang so begehrt, dass auf einen Studienplatz fünf Bewerber kommen. Wegen des Numerus clausus schnellen die Anforderungen an den Abiturnotendurchschnitt immer mehr in die Höhe. Es wird schwierig, den Studiengang auch für Bewerber mit Haupt- und Realschulabschluss offenzuhalten, die dazu noch eine abgeschlossene Berufsausbildung nachweisen müssen.

Was heißt nun „Bildung“ für null- bis dreijährige Krippenkinder? Es geht um die „aktive Aneignung der Welt“, erklärt Susanne Viernickel, Professorin an der Alice-Salomon-Fachhochschule anhand eines Lehrfilms. Bildung beginnt nach heutigen Maßstäben bereits mit der Pflege der Babys. Die Erzieherinnen sollten ebenso wie die Mütter eine stabile persönliche Beziehung zu dem Kind aufbauen und die täglich sich wiederholenden Abläufe beim An- und Ausziehen, beim Windeln und Füttern bewusst mit Gesten und Sprache gestalten. So ist die Erzieherin beim Anziehen des Strampelanzugs keine stumme Dienerin, sondern benennt Hand, Ärmchen und Ärmel. Wenn das Baby nach einem Tuch greift, sollte die Erzieherin auch dies mit erklärenden Worten begleiten. Dann greift ihr das Kleine in die Haare, patscht ihr ins Gesicht – wieder eine Gelegenheit, den persönlichen Kontakt zu kommentieren.

Ebenso wichtig sei es, auf alle Bewegungen und Veränderungen in der Mimik so einzugehen, dass die kindliche Entdeckungsfreude und Neugierde gefördert wird, sagt Viernickel. Auf der Basis dieser persönlichen Beziehung zur Erzieherin entwickelt sich dann auch das Entdecken der Gleichaltrigen. Beim Essen und Spielen mit anderen Krippenkindern werden bereits soziale Beziehungen angelegt, die später im Kindergarten zu Freundschaften wachsen können.

„Bildung als aktive Aneignung der Welt“ bedeutet auch, dass die Erzieherinnen und Erzieher neben Pädagogik und Psychologie etwas von Gesundheitserziehung und Medizin im Kindesalter verstehen müssen. Auf die vielen Fragen bei der Begegnung mit der Natur sollen sie altersgerechte Antworten finden, die auf einem naturwissenschaftlichem Verständnis beruhen.

In Deutschland werde ein so anspruchsvolles Programm in der Erzieherausbildung wohl noch lange Zukunftsmusik bleiben, sagt Gerwald Wallnöfer von der Freien Universität in Südtirol. Wallnöfer gilt als Pionier der akademischen Ausbildung von Frühpädagogen in Europa und berät die Bosch-Stiftung beim „Pik“-Projekt. In Deutschland werde es noch 40 Jahre dauern, bis alle Erzieher akademisch ausgebildet sind, fürchtet der Experte. Peer Pasternak, Leiter des Instituts für Hochschulforschung in Halle, ist noch skeptischer. Er rechnet mit einer langjährigen Koexistenz von Erziehern, die an Fachschulen ausgebildet werden, und jenen, die eine Hochschulqualifikation erlangen. Sollten die akademisierten Erzieher auch künftig nur in Leitungspositionen von Kinderkrippen und Kindergärten eingesetzt werden, stelle sich die Frage, ob und wann die Verbesserung der frühkindlichen Bildung auch bei den Kindern ankomme.

Der Leiter des Programmbereichs Bildung und Gesellschaft bei der Robert-Bosch-Stiftung, Günter Gerstberger, knüpft unterdessen handfeste wirtschaftliche Interessen an das „Pik“-Programm. Angesichts von zurückgehenden Geburtenzahlen habe die Wirtschaft große Sorgen, wie das Humankapital adäquat entwickelt werden könne. Und immer mehr Eltern brächten nicht die Zeit auf oder besäßen nicht die Fähigkeit, ihre Erziehungsaufgaben wahrzunehmen.

Uwe Schlicht

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