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Bildung: Schule der Arroganz

Deutschlands mehrgliedriges Bildungssystem ist das „reaktionärste der Welt“, sagen Strukturreformer – und ernten Widerspruch von Unterrichtsreformern

In Deutschland kann man gegen das Gymnasium keine Schulreform durchsetzen. Selbst wenn Bildungsexperten und linke Politiker davon überzeugt sind, dass die soziale Benachteiligung das Hauptproblem in Deutschland ist, wird das in der Bevölkerung häufig nur auf einer abstrakten Ebene anerkannt – solange, wie die eigenen Kinder selbst nicht neben Kindern aus der Unterschicht sitzen müssen: „Mein Kind ist begabt und seine Begabung darf in der Schule nicht verkümmern“, lautet die Devise.

Der Hamburger Schulkonflikt bietet das aktuelle Beispiel. Wird die Grundschule von vier auf sechs Jahre verlängert, stehen die Bürger aus den reicheren Hamburger Vierteln sowie die CDU-Basis auf der Matte, denn die Zeit am Gymnasium wird damit verkürzt. Das ist für jene 184 500 Hamburger unerträglich, die mit ihren Unterschriften ein Volksbegehren gegen die längere gemeinsame Grundschule in Gang setzen wollen. Die Stadtregierung von CDU und Grünen ist in Gefahr.

Der Egoismus der gutbürgerlichen Eltern ist die eine Seite der Medaille. Die andere sieht so aus: Politiker sind zum Handeln gezwungen, wenn bildungsferne Schüler in Deutschland international besonders schlecht abschneiden. Es herrscht die Hoffnung, eine neue Schulorganisation könne helfen. Das war auch schon der Glaube, als gegen Ende der sechziger Jahre die Gesamtschulidee propagiert wurde.

Wenn die Veteranen der Gesamtschulidee heute Bilanz ziehen, wirkt das wie ein Blick zurück im Zorn. Ludwig von Friedeburg, einst hessischer Kultusminister und Vorkämpfer der integrierten Gesamtschulen, lässt die Bildungsreformen der letzten Jahrzehnte nur als Reförmchen gelten. Er vermisst die eine große Reform, die diesen Namen verdient. Und das ist für ihn nach wie vor die integrierte Gesamtschule.

Mit dieser Sicht stand von Friedeburg auf einer Tagung, die unlängst gemeinsam vom Wissenschaftszentrum Berlin und der TUI-Stiftung getragen wurde, nicht allein. Rolf Wernstedt, von 1990 bis 1998 Kultusminister in Niedersachsen und heute für die Friedrich-Ebert-Stiftung tätig, erinnerte an seine Schulzeit in der DDR, als er bis zur achten Klasse auch mit „dümmeren Schülern“ gemeinsam in einer Klasse gelernt hatte. „Das hat mir nicht geschadet.“ Er empfinde es als Arroganz, wenn sich Eltern aus dem Bürgertum vehement dagegen wehren, dass ihre Kinder mit Kindern aus Arbeiterfamilien zusammen länger als bis zur vierten Klasse gemeinsam unterrichtet werden: „Diese Arroganz hängt mir zum Halse heraus.“

Wolfgang Edelstein, ehemaliger Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, ist in Island zur Schule gegangen – auf einer neunjährigen Schule für alle. Heute erreichen die fünfzehnjährigen Schüler in Schweden und Finnland bei den weltweiten Pisa-Tests in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen Spitzenwerte. Über Deutschland lautet Wolfgang Edelsteins Urteil: „Das deutsche Schulsystem ist das reaktionärste der Welt.“

Natürlich können Strukturreformen auch zu einem besseren Unterricht verhelfen. So wollten die Menschen im Osten Deutschlands nach der Wiedervereinigung auf keinen Fall die Hauptschule aufgedrückt bekommen – Ausnahme Mecklenburg-Vorpommern zu Zeiten der CDU-Regierung. Deswegen ist in den meisten neuen Ländern neben dem Gymnasium die Mittel- oder Sekundarschule eingeführt worden. Sie dauert von der fünften bis zur zehnten Klasse. Sachsen und Thüringen haben es mit dieser Schulreform bei den Pisa-Tests der Fünfzehnjährigen in die deutsche Spitzengruppe geschafft. Sachsen-Anhalt hat erstaunliche Fortschritte erzielt.

Wolfgang Nowak gilt als Spiritus rector dieses Modells. Der damalige CDU-Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf hatte Nowak als Staatssekretär ins sächsische Kultusministerium geholt. Als Sozialdemokrat war er mit seiner Kritik an dem Leistungsniveau von Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen bei der GEW zum Buhmann geworden, dagegen bei Konservativen positiv aufgefallen. Zur sächsischen Mittelschule steht Nowak nach wie vor, aber er räumt Mängel ein: Es sei ein Fehler gewesen, die Mittelschule in Sachsen nicht mit einer eigenen Oberstufe in Form von beruflichen Gymnasien zu verbinden.

In Schleswig-Holstein schien, solange dort SPD und CDU in der großen Koalition regierten, der Durchbruch zur Gemeinschaftsschule auf Dauer gesichert zu sein. Seit dem Regierungsantritt der großen Koalition entstanden im nördlichsten Bundesland mehr integrierte Schulen als Gymnasien. Aus Sicht des Sozialdemokraten Wolfgang Meyer-Hesemann, der bis 2009 Staatssekretär im Bildungsministerium war, wird jetzt in der Schulreform zurückgerudert. Nach den vielen Veränderungen der letzten Jahre rechtfertige die neue CDU-FDP-Koalition ihren Kurs als „Wiederherstellung von Ruhe“.

Wer nicht auf die große Strukturreform, sondern auf guten Unterricht durch fähige Pädagogen setzt, teilt nicht den Glauben an das Allheilmittel von Strukturdebatten. Klaus Wenzel, Vorsitzender des bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes sagt zwar: In der Schulwirklichkeit sei das „Bulimielernen“ verbreitet, verursacht durch den Zwang, am Ende der vierten Klasse eine Entscheidung über den weiterführenden Schulbesuch zu treffen. Kinder müssten aber die Freiheit erhalten, ihre eigene Lerngeschwindigkeit zu entwickeln. Trotzdem wünscht Wenzel keine Strukturreform, sondern will den behutsameren Weg über eine Unterrichtsreform gehen.

Für unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten plädiert auch der Vorsitzende des Bayerischen Philologenverbandes, Max Schmidt. Der eine Schüler brauche nur vier Stunden Deutsch oder Mathematik in der Woche, der andere benötige zehn Stunden zum Begreifen. Mit solcher Veränderung des Unterrichts könne man schneller grundlegendere Verbesserungen erreichen als mit Strukturreformen.

Strukturreform oder Unterrichtsreform? Der erfahrene Bildungswissenschaftler Oskar Anweiler empfiehlt eine Erprobung neuer Wege in kleinen Ländern wie dem Saarland oder in Stadtstaaten, bevor man die Schulreform in großen Flächenstaaten umsetzt.

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