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Sympathieträgerin von einst. In früheren Schulleistungsstudien erfreute sich die Grundschule hoher Beliebtheit bei Eltern und Schülern. Auch schnitten die Schüler vergleichsweise gut ab.

© dpa/David Ebener

Bildung: Was sich ändern muss, damit die Grundschule wieder besser wird

Unzufriedene Eltern und Lehrkräfte, schlechte Leseleistungen von Schülern: Die Grundschule wird zum Sorgenkind. Wie sich das ändern lässt. Ein Gastbeitrag.

Anfang des Jahrtausends erschütterte der „PISA-Schock“ – das schlechte Abschneiden der Jugendlichen in der Lesekompetenz – die deutsche Öffentlichkeit. Für die Grundschule war damals die Welt noch in Ordnung. In den Internationalen Schulleistungsstudien erzielten die Schüler und Schülerinnen der 4. Klasse Leistungen im oberen Drittel. Grundschullehrer waren mit ihrer Arbeit zufrieden, Eltern waren zufrieden mit den Lehrkräften und der Grundschule. Kleine Kinder gingen gern zur Schule und fühlten sich dort wohl.

Dieses Bild hat sich gewandelt, wie die Daten der letzten Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) 2016 zeigen. In IGLU wurden Tausende von Schülern und Schülerinnen der 4. Klasse und ihre Eltern, Lehrkräfte und die Schulleitungen befragt. Diese Studie wird seit 2001 alle fünf Jahre durchgeführt und ermöglicht eine Trendberichterstattung. Viele der Daten, vor allem die zum Schulklima, die aus dem internationalen Datensatz vorliegen, wurden bisher in Deutschland noch nicht rezipiert. Das ist deshalb erstaunlich, weil das Schulklima neben der Leistungsfähigkeit ein wichtiges Merkmal für Schulqualität darstellt.

Sucht man in den internationalen Tabellen nach Deutschland, ist es zeitsparend, gleich am unteren Ende der Verteilungen zu beginnen. Weit unter dem internationalen Durchschnitt liegen die Werte für die Zufriedenheit der Eltern mit der Schule, die Berufszufriedenheit der Lehrkräfte, das Wohlbefinden der Kinder in der Schule und das Urteil der Lehrkräfte über Sicherheit und Ordnung an ihrer Schule.

40 Prozent lesen weniger als eine halbe Stunde am Tag

Auch die Ergebnisse der neuen IGLU-Erhebung zum Lesen sind erschreckend für Deutschland. Während sich laut PISA 2015 bei den Jugendlichen eine Steigerung der Leseleistung und eine Verminderung des Anteils mit schwachen Lesekompetenzen beobachten lässt, ist laut IGLU der Anteil der Kinder mit schwachen Leseleistungen in den letzten 15 Jahren signifikant auf 19 Prozent angestiegen. Für diese Gruppe ist zu erwarten, dass sie in der Sekundarstufe I mit erheblichen Schwierigkeiten beim Lernen in allen Fächern konfrontiert sein werden, wenn es nicht gelingt, sie dort maßgeblich zu fördern. Zwar ist in Deutschland im Durchschnitt die Leseleistung stabil geblieben, aber viele europäische Länder sind an uns vorbeigezogen: 2001 erreichten vier EU-Staaten (Schweden, Niederlande, England, Bulgarien) bessere Leistungen. Doch im Jahr 2016 waren es bereits 13 EU-Staaten.

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Ungünstig sind zudem die Entwicklungen von Motivation und Leseverhalten. Immer weniger Kinder lesen täglich oder fast täglich zum Vergnügen. Auch die Lesedauer ist gering: 40 Prozent der Kinder lesen weniger als 30 Minuten pro Tag. Nur Kasachstan und Malta haben hier ähnlich ungünstige Werte. Außerhalb der Schule – so zeigt IGLU im internationalen Vergleich – wird von den Schülerinnen und Schülern in Deutschland also wenig gelesen.

Für Leseunterricht stehen keine Fachspezialisten bereit

Hinzu kommt, dass auch in der Schule wenig Leseunterricht erteilt wird. In 4. Klassen werden etwa 90 Stunden der Zeit für expliziten Leseunterricht, auch über Fächergrenzen hinweg, aufgebracht. Der internationale Mittelwert liegt bei knapp 160 Stunden. Zudem wird im Leseunterricht zu wenig Wert gelegt auf die Vermittlung von anspruchsvolleren Lesestrategien, also Methoden der Texterschließung und -verarbeitung.

Besonders beklagenswert ist das geringe Ausmaß der Förderung für leseschwache Schülerinnen und Schüler. Wie schon in IGLU 2006 zeigt sich, dass von den Leseschwachen nur jedes dritte Kind eine besondere schulische Förderung erhielt. In erfolgreichen Ländern stehen Fachspezialisten (zum Beispiel Leseexperten, Sprachtherapeuten, Beratungslehrer) zur Verfügung, mit dem Ziel, die individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, was auch im Hinblick auf die angestrebte Inklusion von Bedeutung ist. Deutschland hat hier EU-weit die ungünstigsten Verhältnisse: Für 84 Prozent der Schülerinnen und Schüler (2011 waren es noch 78 Prozent) stehen keine Fachspezialisten im Leseunterricht zur Verfügung.

Kinder aus bildungsnahen Eltern kommen bei gleichen kognitiven Fähigkeiten eher aufs Gymnasium

Bedenklich ist nach wie vor die Abhängigkeit der schulischen Leistungen von der sozialen Herkunft (Berufsstatus der Eltern, Migrationshintergrund), die in Deutschland besonders groß ist. Und diese Kluft hat sich in den letzten 15 Jahren tendenziell sogar etwas vergrößert. Das zeigt sich auch an einer zentralen Gelenkstelle für das Entstehen von Bildungsbenachteiligung in Deutschland, dem Übergang in die Sekundarstufe. Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern haben eine 3,5mal höhere Chance auf eine Gymnasialempfehlung als Kinder aus bildungsfernen Familien, und dies unter Kontrolle der Lesekompetenz und der kognitiven Fähigkeiten. 2001 war diese Chance nur 2,5mal so groß.

Es besteht also großer Handlungsbedarf. Da Lesenkönnen die Schlüsselkompetenz ist für lebenslanges Lernen, für gesellschaftliche, politische und kulturelle Teilhabe, geht es vor allem um die Sicherung eines qualitativ hochwertigen Leseunterrichts (deutliche Erhöhung des zeitlichen Anteils von Leseunterricht, der motivierender und kognitiv anregender werden muss), eine konsequente Förderung von Kindern mit schwacher Lesekompetenz und eine Verbesserung der Lehrerausbildung. Angesichts des schon bestehenden Lehrermangels ist es fraglich, ob die Grundschule diesen Aufgaben in Zukunft besser gerecht werden kann.

Die Autorin war Professorin für Grundschulpädagogik an der Humboldt-Universität. Sie ist Mitglied im deutschen IGLU-Team und Vizepräsidentin der Europäischen Lesegesellschaften (FELA). 2000 wurde sie in die „Reading Hall of Fame“ berufen.

Renate Valtin

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