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Ballonartige Wesen bekämpfen Baumparasiten und synthetische Schnecken neutralisieren sauren Boden. So stellt sich die Künstlerin Alexandra Daisy Ginsberg die Natur der Zukunft vor.

© Alexandra Daisy Ginsberg

"Bio" ist Kunst: Achselhöhlen-Käse und farbige Fäkalien

Bislang hing Kunst recht leblos in Museen und Galerien herum. Jetzt gestalten Künstler neue Organismen – mithilfe von synthetischer Biologie.

Mit ihrer Käsesammlung ist Christina Agapakis weit gereist. Sie zeigte die Milchprodukte in einer Kunstgalerie, in einer Talkshow, auf Wissenschaftsfestivals und Konferenzen. Egal, wo die US-amerikanische Biologin auftrat – ihre selbstgemachten Käse lösten bei Publikum und Presse die immer gleichen Reaktionen aus: Staunen, nervöses Gelächter, Unbehagen und Ekel. Ganz Mutige schnupperten an den Käselaiben, die je nach Sorte Stinkefuß-Odeur verbreiteten oder bloß mild vor sich hindufteten.

Kosten war nicht erlaubt. Der Käse sei nur „Nahrung für die Gedanken“, sagt Christina Agapakis. Der Appetit der Zuschauer auf Käsehäppchen habe sich aber ohnehin in Grenzen gehalten. Denn im Rahmen ihrer Doktorarbeit an der Universität Harvard in Cambridge hatte die Forscherin die Mikroben für die Käseherstellung und -aromen von menschlichen Zehen, Nasen, Mündern, Achselhöhlen und anderen Körperstellen gesammelt.

Lichtkünstler Olafur Eliasson spendete Tränen

Viele der rund 20 Bakterienspender waren Wissenschaftler und Künstler. Der Ernährungsjournalist Michael Pollan machte einen Bauchnabel-Abstrich. Lichtkünstler Olafur Eliasson stellte Tränenflüssigkeit samt mikroskopisch kleinen Mitbewohnern zur Verfügung. Auch sein Porträt aus geronnener Milch ist Teil von Agapakis’ Käse-Kunstserie „Selfmade“ – „Selbstgemacht“.

Um sich in der Welt der Naturwissenschaften zu behaupten, hätte Christina Agapakis die gemeinsam mit der Geruchskünstlerin Sissel Tolaas geschaffenen Werke nicht gebraucht. „Ich war noch zu Beginn meines Studiums überzeugt, dass ich als Forscherin Hypothesen aufstellen werde, um dann mit Experimenten die richtige Antwort zu finden“, sagt Agapakis. Doch diese Geradlinigkeit führte die Biotechnologie-Expertin nicht ans Ziel. „Erst die vermeintlich emotionale, irrationale und subjektive Kunst hat mir ein viel tieferes Verständnis der Wissenschaft verschafft“, sagt Agapakis, die mittlerweile Kreativdirektorin der Biotechfirma Ginkgo Bioworks in Boston ist. Ihre Forscherneugier gilt dem Zusammenleben von Bakterienarten, die billionenfach auf der Haut und im Darm des Menschen gedeihen.

Christina Agapakis (links) und Sissel Tolaas stellten Käse mithilfe von Bakterien her, die sie in den Achseln, zwischen den Zehen oder von anderen menschlichen Körperstellen sammelten.
Christina Agapakis (links) und Sissel Tolaas stellten Käse mithilfe von Bakterien her, die sie in den Achseln, zwischen den Zehen oder von anderen menschlichen Körperstellen sammelten.

© Science Gallery Dublin

Obwohl diese uralten Symbiosen unentbehrlich für die Gesundheit des Menschen sind, ist das Verhältnis zu den unsichtbaren Mitbewohnern eher zwiespältig und emotional, wie Agapakis' Käse-Kunst-Intervention zeigte. Doch in Zukunft könnte es noch ganz andere, künstliche Mitbewohner geben – geschaffen in den Labors der Synthetischen Biologen. Mit DNS- und Protein-Bausteinen, die in der Natur nicht vorkommen, kreieren sie Lebensformen mit neuen Funktionen. So könnten die synthetischen Wesen zum Beispiel bei der Früherkennung von Krankheiten nützlich sein.

Von dieser Vorstellung ließ sich die Londoner Designerin Alexandra Daisy Ginsberg inspirieren. Im Rahmen von „iGEM“, einem jährlichen internationalen Wettbewerb der Synthetischen Biologie, entwickelte sie gemeinsam mit einem Studententeam der Universität Cambridge neuartige Darmbakterien. Diese E.-chromi-Mikroben sind mit Biosensoren ausgestattet. Die Vision ist, diese Bakterien eines Tages mit dem Joghurtdrink in den Verdauungstrakt zu spülen. Spüren ihre Biosensoren dort Anzeichen für Darmkrebs, Wurmbefall oder eine Salmonelleninfektion auf, produzieren sie einen Farbstoff. Je nach Krankheit erstrahlen die Fäkalien dann in Blau, Gelb, Rot, Violett oder Grün: Der Blick ins Klo wird so zur Diagnose.

Neue Bazillen sollen die alte Natur bewahren

In einem anderen Projekt widmete sich Ginsberg der Umweltzerstörung. Um die „alte“ Natur zu bewahren, entwarf sie gemeinsam mit Synthetischen Biologen und Biodiversitätsforschern neue, hypothetische Organismen, die zum Beispiel gegen Pilzbefall von Bäumen vorgehen oder andere Aufgaben in angeschlagenen Biotopen übernehmen. Die „Ökologischen Maschinen“ agieren selbstständig und vermehren sich auch, so die Idee. Als Sicherheitsmaßnahme sieht das „Design for the Sixth Extinction“ vor, die Lebenszeit auf ein paar Tage zu programmieren und eine künstliche DNS zu verwenden, die mit natürlichem Erbgut nicht wechselwirken kann.

Tauben sollen Seife unter sich lassen und die Umwelt säubern

Ballonartige Wesen bekämpfen Baumparasiten und synthetische Schnecken neutralisieren sauren Boden. So stellt sich die Künstlerin Alexandra Daisy Ginsberg die Natur der Zukunft vor.
Natürlich künstlich. Ballonartige Wesen bekämpfen Baumparasiten, synthetische Schnecken neutralisieren sauren Boden, stachelschweinige Kreaturen sammeln und verteilen Samenkörner. So stellt sich die Künstlerin Alexandra Daisy Ginsberg die Natur der Zukunft mit synthetischen Organismen vor.

© Alexandra Daisy Ginsberg

Der belgische Künstler Tuur Van Balen hat in einer Installation durchgespielt, wie sich Tauben mithilfe von synthetisch umprogrammierten Bakterien im Futter zu Produzenten von biologisch abbaubarer Seife umwandeln ließen. So könnten die „Flugratten“ zu gefiederten Putztrupps werden.

Achselhöhlen-Käse, bunte Fäkalien und gurrende Seifenspender – diese Biokunst-Werke kommen auf den ersten Blick leichtfüßig, verspielt und humorvoll daher. Sie werfen aber vor allem irritierende Fragen auf, die die aufkommende Synthetische Biologie mit sich bringt: Welcher Nutzen steht in einem angemessenen Verhältnis zu möglichen Risiken? Wie weit darf die Technik der Natur ins Handwerk pfuschen?

Bisher arbeiten die Künstler im Verborgenen

Dass solche mikrobiellen Golems und Frankensteins irgendwann aus den Labors entkommen, befürchtet Steen Rasmussen nicht. Vielmehr beunruhigt den dänischen Physiker von der Universität Süddänemark, dass Bürger und Politiker es versäumen könnten, über diese neuen Technologien und Lebensformen zu diskutieren. Denn sie könnten die Arbeitswelt und Lebensmittelproduktion grundlegend verändern, sagt Rasmussen. Doch Öffentlichkeit und Medien nehmen von der Synthetischen Biologie kaum Notiz.

„Wir müssen unbedingt über die Auswirkungen auf unsere Gesellschaft nachdenken, und zwar schon jetzt“, sagt der Experte für Künstliches Leben. Er hat 20 Jahre lang am Los Alamos National Laboratory in den USA geforscht und arbeitet nach wie vor an der Entwicklung künstlicher „Minimal“-Zellen. Damit lotet Rasmussen die Grenze zwischen lebender und nicht lebender Materie aus. Er plädiert für eine enge Zusammenarbeit von Wissenschaft und Kunst. Denn im Entwickeln von Visionen seien Maler, Dichter, Filme- und Theatermacher besser als die Forscher. „Auch wenn sie weit hergeholt, unheimlich, radikal oder verrückt scheinen – mithilfe dieser Geschichten, Träume und Gefühle können wir besser über die Zukunft nachdenken“, sagt Rasmussen. „Ich möchte nicht, dass Entscheidungen schlecht informierten und inkompetenten Populisten überlassen werden.“

Neue Geschmackserlebnisse durch andersartige Chemikalien

Sein Center for Fundamental Living Technology ist seit Kurzem Gastgeber für den US-amerikanischen Künstler und Designer Orkan Telhan. Während dieser Künstlerresidenz wird sich Telhan mit der Zukunft des Essens befassen. „Vielleicht werden wir eines Tages Nahrung mithilfe der Synthetischen Biologie herstellen, zum Beispiel um die Weltbevölkerung mit knappen Ressourcen satt zu bekommen“, sagt Telhan, der an der University of Pennsylvania unterrichtet.

„Unnatürliches“ Labor-Essen klingt nicht nach jedermanns Geschmack. „Doch was wäre, wenn diese Designer-Lebensmittel sogar besonders nahrhaft und wohlschmeckend wären?“, spekuliert Orkan Telhan. Möglicherweise bieten sie ganz neue Geschmackserlebnisse durch andersartige Chemikalien, die sich selbstständig weiterentwickeln. Das Ergebnis seines Projekts möchte er bei einer Verkostung vorstellen und dabei simulieren, was den Menschen in Zukunft Appetit machen könnte.

„In den Anfangszeiten der Biokunst, also in den 80ern und 90ern, war es für Künstler noch viel schwieriger, Zugang zu Labors, Wissen und Arbeitsmaterial zu bekommen“, sagt die Berliner Kunsthistorikerin Ingeborg Reichle. Vor rund 15 Jahren entstand auch das Leuchtkaninchen GFP Bunny von Eduardo Kac. Das Tier, das samt eingepflanztem Quallen-Gen unter UV-Licht grün fluoreszierte, provozierte gewaltig. Dieses Readymade stellte die Frage, warum ein gängiger biotechnologischer Prozess – aus dem Kontext gerissen – nun auf einmal Kunst sein sollte.

Ein bisschen an Bakterien basteln darf jeder

Außerdem schürten die Arbeiten von Kac und Konsorten die Befürchtung, dass Künstler womöglich unsachgemäß mit Technologien hantieren und gefährliche Organismen freisetzen könnten. Das System Wissenschaft ist mittlerweile deutlich offener. Neben Künstlern betreiben heute auch Biotechnologie-Laien aus der Do-it-yourself-Bewegung Projekte in aller Welt. „Der privilegierte Blick durch die Biologie auf das Leben – das ist nun aufgehoben“, sagt Reichle.

Dass mittlerweile diverse wissenschaftliche Institutionen Künstler einladen oder Preise vergeben, sieht die Biokunst-Expertin Reichle durchaus kritisch. Es bestehe mitunter die Gefahr der Vereinnahmung. „Kunst ist weitaus positiver besetzt als Synthetische Biologie. Dieser Effekt kann für Öffentlichkeitsarbeit genutzt werden, als billiges Vehikel für die Popularisierung von Wissenschaft.“ Doch die Rolle der Kunst sei vielmehr, der Wissenschaft einen Spiegel vorzuhalten, ihre politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen infrage zu stellen und Interessenskonflikte aufzuzeigen.

That's Life: Viele Kunstwerke vergehen rasch

Andererseits ist die Biokunst noch abhängig von finanzieller Förderung durch die Forschungsinstitutionen. Denn das „Betriebssystem Kunst“ sei auf die Bioart-Szene noch nicht recht aufmerksam geworden. „Bei Sotheby's oder in New Yorker Galerien wird Synthetische Biokunst bisher nicht gehandelt.“ Dabei tue sich gerade in China und Indien sehr viel. „Ein Indikator für einen globalen Trend.“ Die schwierige kommerzielle Verwertbarkeit mag auch daran liegen, dass „Biokunst meistens nichts ist, was man sich über die Couch ins Wohnzimmer hängen kann“, sagt Reichle. Viele Kunstwerke sind wenig dekorativ – oder schlicht vergänglich.

Auch die nach ihren Spendern riechenden Käseporträts der „Selfmade“-Serie landeten irgendwann im Müll. Allerdings nicht bevor Christina Agapakis noch von einem Laib gekostet hatte, der aus ihren eigenen Bakterien hergestellt war: „Schmeckte wie ganz normaler Käse.“

Julia Harlfinger

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