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„SOS Bildung“. Kurz vor der WM demonstrierten Lehrerinnen und Lehrer für höhere Gehälter. Der Konflikt schwelt weiter: Bisher hat die Regierung die Forderung nach zwanzig Prozent mehr Lohn nicht erfüllt.

© AFP

Brasilien nach der WM 2014: Die Bildungsproteste kommen wieder

Viele Schulen gelten als schlecht, an den Unis kann fast nur die Oberschicht studieren: Es wird erwartet, dass unterbezahlte Lehrer, frustrierte Studierende, Schüler und ihre Eltern bald wieder auf die Straße gehen.

„Ein Lehrer ist mehr wert als Neymar“ – „Krankenhäuser und Schulen nach Fifa-Standard!“: Kurz vor dem Beginn der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien brandeten die Bildungsproteste in Rio de Janeiro noch einmal auf. Und dann war Ruhe – jedenfalls im Vergleich zu den Massenprotesten, die Brasilien seit dem Sommer 2013 bewegt hatten. Millionen waren landesweit auf die Straße gegangen und immer ging es dabei auch um das marode Bildungswesen und um zu niedrige Lehrergehälter. Diesen Zuständen schienen die enormen Investitionen in Fußballstadien und Infrastruktur – fast neun Milliarden Euro, von denen 84 Prozent aus öffentlichen Mitteln bezahlt wurden – Hohn zu sprechen.

Während der WM blieb es vergleichsweise ruhig - aber die Unzufriedenheit wächst

Während der WM blieb es dann aber auch deswegen vergleichsweise ruhig, weil die fußballbegeisterten Brasilianer, unter ihnen die Anführer der Proteste, erst einmal die Nationalelf unterstützen wollten. Auch die Weltöffentlichkeit sah lieber jubelnde Fans anstatt Protestplakate. Es gilt gleichwohl als ausgemacht, dass unterbezahlte Lehrer, frustrierte Studierende, Schüler und ihre Eltern jetzt, nach dem Ende der WM, bald wieder auf die Straße gehen: Nicht zuletzt, weil im Oktober Wahlen anstehen. Denn trotz des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Aufstiegs im letzten Jahrzehnt wachsen Unzufriedenheit und wirtschaftliche Ungewissheit in der brasilianischen Gesellschaft.

Vor allem die Angehörigen der traditionellen Mittelschicht beklagen die Unzulänglichkeiten der staatlichen Leistungen. Sie haben in den vergangenen Jahren weniger von dem Wirtschaftswachstum des Landes profitieren können als vergleichsweise die „neue“ brasilianische Mittelschicht aus Arbeitern und Angestellten, die sich aufgrund der gestiegenen Binnennachfrage, der verschiedenen Sozialprogramme, etwa das Familiensozialhilfeprogramm „bolsa família“, und wegen des Wegfalls der Hyperinflation herausgebildet hat. Deren Einkommen wachsen mittlerweile stärker als die der Oberschicht. Und diese neue untere Mittelschicht macht heute mehr als die Hälfte der Bevölkerung des Landes aus.

Präsidentin Dilma Rousseff will Einnahmen aus der Ölförderung in die Bildung stecken

Um die aufgebrachten Gemüter zu beschwichtigen, hat die Regierung bereits kurz nach dem Höhepunkt der Proteste Zugeständnisse gemacht. Bildungs- und Gesundheitsausgaben sollen steigen, Korruption an Schulen und Unis bekämpft werden. Im August 2013 etwa ging ein zuvor liegen gebliebener Gesetzentwurf der Präsidentin Dilma Rousseff durch, nach dem die Einnahmen des Fiskus aus der Ölförderung künftig zu 75 Prozent in das Bildungswesen fließen sollen. Unklar ist indes, wann mit der Förderung vor der Atlantikküste begonnen werden kann und wie schnell Gewinne überhaupt fließen.

Bildung war in Brasilien für lange Zeit eine sehr elitäre Angelegenheit, Volksbildung kein Thema. Vielmehr ging es um den Ausbau der höheren Bildung und der damit verbundenen Akademisierung der Kinder und Jugendlichen aus der Oberschicht, wobei das brasilianische Hochschulwesen noch sehr jung ist. Erste Universitäten entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Zusammenlegung einzelner Fakultäten, die nach der Flucht des portugiesischen Königshauses vor Napoleons Truppen und dessen Übersiedlung nach Brasilien (1808) eingerichtet wurden. Davor bevorzugte die portugiesische Krone ihre Funktionselite für das Kolonialgebiet im heutigen Brasilien (Juristen, Mediziner, Ingenieure) in Coimbra und Lissabon selbst auszubilden. Die Söhne der Kolonisatoren und der einheimischen Elite wurden in den von den Jesuiten geführten Kollegs (Colégios) auf den Priesterberuf oder auf eine Verwaltungstätigkeit vorbereitet.

Erst seit den 1930er Jahren existiert ein verstärktes Bewusstsein für bildungspolitische Fragen und Probleme. Brasilien war zu jener Zeit durch die erste Industrialisierungsphase gegangen. Die Regierung wie auch das Industriebürgertum erkannten, dass zunehmend Facharbeiter mit einem guten Bildungs- und Ausbildungsniveau benötigt wurden.

Die Analphabetenquote liegt bei zehn Prozent

Doch trotz der zahlreichen Reformen und der quantitativen Fortschritte in den darauffolgenden Jahrzehnten konnten die erheblichen Mängel im Bildungsbereich nicht behoben werden. Eine quasi-universelle Grundschulbildung scheint mittlerweile erreicht zu sein. Die Analphabetenrate liegt heute bei knapp zehn Prozent – vor 15 Jahren waren es schätzungsweise noch 18 Prozent. Allerdings bestimmen soziale Ungleichheit, mangelhafte Qualität, Bildungsarmut, eine defizitäre Infrastruktur, schlecht ausgebildete Lehrer und eine chronische Unterfinanzierung nach wie vor die Bildungslandschaft des Landes.

Zwischen den Jahren 2000 und 2010 stiegen zwar die öffentlichen Bildungsausgaben, gerechnet am Bruttoinlandsprodukt (BIP), von 3,5 Prozent auf 5,6 Prozent. Das ist so nahe am OECD-Durchschnitt von 6,3 Prozent wie nie zuvor. Aber in absoluten Zahlen reichen die öffentlichen Mittel nicht aus, um eine adäquate staatliche Bildungsversorgung zu gewährleisten. Als siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt gibt Brasilien fast nur ein Drittel des OECD-Schnitts pro Schüler oder Studierendem aus. Hinzu kommt ein hoher Grad an Missmanagement und eine ungleiche Mittelverteilung. Brasilien ist unter den OECD-Ländern das Land mit der höchsten sozialen Ungleichheit bei der Finanzierung von Bildung. Für Studierende wird fünfmal mehr ausgegeben als für Grundschüler.

In Brasilien haben die Reichen die besten Chancen an die Uni zu kommen

Daraus ergeben sich Paradoxien, die sozialen Sprengstoff bergen. Die Unter-, aber auch die neue Mittelschicht profitieren weniger von den staatlichen Bildungsausgaben als die traditionelle Mittel- und Oberschicht, weil ihnen aufgrund ihrer schlechten Schulbildung an den staatlichen Schulen der Zugang zu den staatlichen Hochschulen erschwert ist. Zudem genießen die öffentlichen Hochschulen im Gegensatz zu den privaten einen besseren Ruf und sind außerdem kostenfrei. Allerdings sind aufgrund der gestiegenen Studierendenzahlen die Studienplätze an den begehrten staatlichen Unis sehr knapp. 2010 kamen landesweit acht Kandidaten auf einen staatlichen Studienplatz; an Universitäten mit hoher Reputation und in den Prestigefächern wie Medizin und Jura waren es sogar 30 Kandidaten.

Privatunis nehmen bis zu 1000 US-Dollar Gebühren pro Monat

Der Hochschulzugang wird über Aufnahmeprüfungen geregelt. Dabei ist den Hochschulen freigestellt, eigene Prüfungen (Vestibular) durchzuführen oder die von den Schülern in der Nationalen Sekundarstufenprüfung erzielten Ergebnisse zu verwenden. In der Regel haben die Schüler der meist qualitativ besseren Privatschulen größere Chancen die Eignungstests zu bestehen, da sie bereits an ihren Schulen gezielt auf die universitären Zulassungsprüfungen vorbereitet werden. Diese Schüler stammen überwiegend aus der etablierten Mittel- und Oberschicht und haben damit ungleich größere Chancen auf eine akademische Karriere an einer staatlichen Universität. Diejenigen, die den Eignungstest dort nicht bestehen, werden an die privaten Hochschulen verwiesen, die je nach Fach und Qualitätsniveau monatliche Studiengebühren zwischen 200 und 500 US-Dollar erheben. An einigen wenigen renommierten Privatunis können sie sich auf über 1000 US-Dollar pro Monat belaufen.

Lehrer streiken für mehr Gehalt

Der Staat hat sich dem Problem durchaus gestellt. Repräsentantenhaus und Senat verabschiedeten 2012 ein Quotengesetz, das die Hälfte aller Studienplätze an den staatlichen Bundesuniversitäten für Studierende öffentlicher Schulen reserviert. Zudem gibt es seit 2005 das „Universitätsprogramm für alle“ (Programa Universidade para Todos), das Voll- und Teilstipendien für Bachelor- und Aufbaustudiengänge an privaten Unis für Studierende aus sozial benachteiligten Familien vergibt. Doch Kritiker befürchten ein Absacken des akademischen Niveaus – und das treibt wiederum die alte Mittel- und Oberschicht auf die Straße, die sich in ihren Privilegien bedroht fühlt.

Reformen, die das ganze Land mitnehmen und die den Menschen das Vertrauen in die Regierung zurückgeben, sind nicht in Sicht. Die Lehrer, denen im Oktober 2013 acht bis 15 Prozent Gehaltserhöhungen zugesichert wurden, verlangten im Juni dieses Jahres in Rio de Janeiro 20 Prozent. Jetzt wird das wieder relevant werden.

- Die Autorin ist promovierte wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaften der Ruhr-Universität Bochum.

Claudia Richter

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