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Charité: Virchows Erbe in Gefahr

Die Medizinhistorische Sammlung der Charité war einst ein Sammelsurium gruseliger Kuriositäten aus dem Sektionssaal. Heute dokumentiert sie die wechselvolle Geschichte der Berliner und deutschen Medizin. Jetzt ist sie durch die Finanznot der Charité bedroht.

Der wilhelminische Museumsbau in rotem Backstein liegt verborgen ganz am Ende des Charité-Geländes in Berlin-Mitte. Aber er ist längst mehr als ein Geheimtipp. Das einst für die Sammlung des weltberühmten Pathologen Rudolf Virchow errichtete Gebäude beherbergt das Berliner Medizinhistorische Museum und zieht jedes Jahr Zehntausende von Besuchern an, darunter viele aus dem Bundesgebiet und dem Ausland. 2010 waren es 90 000, 2009 gar – wegen einer spektakulären Sonderausstellung zur Rechtsmedizin – 120 000. Doch der Sparzwang, der die Charité im Griff hat, verschont auch das Museum nicht. Dabei geht es nicht nur um den Abbau des Defizits. Der Klinikumsvorstand erörtert hinter verschlossenen Türen auch weitergehende Alternativen: Schließung, Verlagerung an andere Museen, Trägerwechsel und private Sponsoren sind zumindest in der Diskussion.

„Wir stehen unter dem Damoklesschwert der schwarzen Null, die wir in diesem Jahr erreichen müssen“, sagt die Charité-Sprecherin Stefanie Winde. „Deshalb müssen wir die Kosten deutlich senken.“ Die Behauptung der „Berliner Zeitung“, der Vorstand habe beschlossen, das Museum aufzugeben, weist Winde jedoch zurück. „Die Charité plant derzeit nicht, das Museum zu schließen oder abzugeben“, sagte sie gegenüber dem Tagesspiegel. Wie es endgültig mit dem Museum weitergeht, werde der Vorstand im September oder Oktober entscheiden.

Das Museum benötigt für seinen Betrieb eine Million Euro. 300 000 Euro nimmt es selbst ein, etwa über Eintrittskarten. Bleibt ein Fehlbetrag von 700 000 Euro. Im Frühjahr wurden deshalb erste Sparmaßnahmen ergriffen und zum Beispiel die Eintrittspreise erhöht und die Depotkosten gesenkt. „Dadurch ist es bereits gelungen, das Defizit auf rund 500 000 Euro zu verringern“, sagt Winde. Natürlich könne ein solches Museum nie gewinnbringend arbeiten. Klar sei aber auch, dass ein Museum nicht zu den Kernaufgaben der Charité gehöre, also weder zur Krankenversorgung noch zu Forschung und Lehre etwas beitrage.

Das sieht Museumsdirektor Thomas Schnalke anders. Er weist darauf hin, dass das Museum unter dem Dach der Fakultät angesiedelt ist, also im Bereich Forschung und Lehre. Erst vor Kurzem habe der Wissenschaftsrat – das höchste wissenschaftliche Beratergremium für die Politik – daran erinnert, dass die Pflege wissenschaftlicher Sammlungen eine Daueraufgabe der Universitäten sei. 2010 war das Museum ein Zentrum bei den Veranstaltungen zum 300-jährigen Jubiläum der Charité – jetzt sei dieses Schaufenster des Klinikums möglicherweise in seiner Existenz bedroht. Ein „Skandal“ wäre die Schließung, sagt Schnalke.

Schützenhilfe bekommt der Medizinhistoriker von Manfred Dietel, Leiter der neben dem Museum gelegenen Pathologie und damit Nachfolger Virchows. Auf Dietel geht die Idee zurück, die Sammlung zu einem Museum der Medizingeschichte auszubauen und den einstigen Hörsaal Virchows als Veranstaltungsort zu nutzen. Mittlerweile sind in der „Hörsaalruine“, die noch Spuren der Kriegszerstörung zeigt, Wissenschaftler wie der DNS-Doppelhelix-Entdecker James Watson, der Klon-Pionier Ian Wilmut und der Evolutionsbiologe Richard Dawkins zu Gast gewesen. Hier präsentierten Christo und Jeanne-Claude 1994 ihre Pläne zur Reichstagsverhüllung. Das Museum gehört aus Dietels Sicht zu den Kernaufgaben der Charité. „Eine Schließung wäre ein strategischer Fehler“, sagt er. Die Sammlung stoße auf großes öffentliches Interesse, sie repräsentiere die Charité und sei auch ein Ort, wo Forschung betrieben werde.

Das Museum blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Virchows Sammelwut war es zu verdanken, dass bereits 1901 mehr als 20 000 anatomische Präparate auf fünf Etagen ausgestellt wurden. Zwei Etagen waren der Öffentlichkeit zugänglich, Virchow war es darum zu tun, die Bevölkerung über den Körper und seine Krankheiten aufzuklären. Fliegerbomben vernichteten im Zweiten Weltkrieg mehr als 90 Prozent der Präparate, in den 50er Jahren zerstörte ein Dachstuhlbrand weitere Teile.

Nach der Wende kam es zu einer glücklichen Wiedergeburt der Virchow’schen Museumsidee. Wesentlichen Anteil daran hatte der neu berufene Medizinhistoriker Thomas Schnalke. Die Ausstellung glich Anfang der 90er Jahre eher einem Sammelsurium grusliger Kuriositäten aus dem Sektionssaal. Schnalke bettete die Präparate in eine umfassende und eindrucksvolle Dokumentation der Berliner Medizingeschichte ein. Heute ist das Museum einzigartig in Deutschland, wozu auch die bemerkenswerten Sonderausstellungen beitragen.

Schnalke erkennt zwar an, dass die Charité unter großem wirtschaftlichem Druck steht. Aber er kritisiert, dass die Ökonomie zu großen Vorrang bekommen hat. Das spüren auch Schnalkes Kollegen vom Institut für Geschichte der Medizin an der Charité. Dessen Direktor Volker Hess weist darauf hin, dass sein Institut zu den forschungsstärksten in Deutschland gehört. Die an der Charité übliche leistungsorientierte Mittelvergabe berücksichtige jedoch nicht die Kosten, die die fast 100 000 Bände umfassende Bibliothek verursache.

Nun solle das Personal der Bücherei und des Archivs mit seinen 120 000 historischen Krankenakten abgezogen werden. „Das Instrument einer fachwissenschaftlichen Bibliothek wäre damit wertlos“, sagt Hess. Ein Jahr nach den Jubiläumsfeierlichkeiten wird er das Gefühl nicht los, dass die Medizingeschichte, nachdem sie ihre Pflicht getan hat, nun zu den Traditionen gehöre, deren man nicht mehr bedürfe.

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