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Große Erzählungen. Altägyptische Literatur wurde von Schreibern vervielfältigt und dem nicht schriftkundigen Volk vorgetragen. Im Bild ein Grabrelief aus der Zeit des Alten Reiches.

© picture-alliance / Herve Champol

Das alte Ägypten: Liebesdramen auf Papyrus

Königsdisziplin der Ägyptologie: Ein Heidelberger Forscher entschlüsselt frühe Literatur vom Nil. Diese war zwar wenig hochstehend, dafür aber so unterhaltsam, dass man sie auch für heutige Leser umsetzen könnte.

Sinuhe, der Ägypter, gehört – neben Ramses II., Tutanchamun und Echnaton – sicher zum Quartett der landläufig bekannten Männer vom antiken Nil. Der sinnsuchende Sinuhe aus dem Roman des Finnen Mika Waltari aus dem Jahr 1945 dürfte dabei das Alte-Ägypten-Bild einiger Generationen geprägt haben. An dem Sittenbild ist allerdings so gut wie nichts authentisch. Nicht einmal die erzählte Geschichte hat Ähnlichkeit mit der literarischen Vorlage aus Ägypten selbst. Die stammt aus dem Mittleren Reich des 20. Jahrhunderts v. Chr. – und ist weitgehend unbekannt.

Dieses Schicksal teilt die Erzählung mit den meisten literarischen Erzeugnissen der Nilkultur. „Literatur kann man ja nicht einfach ins Museum hängen“, sagt Joachim Friedrich Quack, „denn ein Text erschließt sich nicht so leicht wie eine Skulptur oder ein Wandgemälde.“ Um altägyptische Literatur verstehen und genießen zu können, erklärt der Ägyptologe von der Universität Heidelberg, muss man sich insgesamt über das bloße Betrachten hinaus stärker auf diese Kultur einlassen. Hinzu kommt, dass viele, wenn nicht die meisten Texte aus Ägypten nur noch bruchstückhaft vorhanden sind.

Dass sich solche Arbeit durchaus lohnen kann, deutet Quacks Einschätzung an: Vor allem die Literatur der letzten Jahrhunderte v. Chr. „ist vielleicht nicht hochstehend, dafür aber so unterhaltsam, dass man die Geschichten erfolgreich umsetzen könnte für ein heutiges Publikum“. Und die Geschichten haben immer ein Happy End.

Aus dem Alten Reich des 3. Jahrtausends gibt es keine einzige Handschrift literarischen Schaffens. So können die Forscher trefflich streiten, ob es in der Anfangszeit der altägyptischen Reichwerdung überhaupt Literatur gegeben hat. Quack, der in diesem Jahr mit der höchsten deutschen Wissenschaftsehrung, dem Leibniz-Preis, ausgezeichnet wurde, nennt dies „eine Gretchenfrage der Ägyptologie“. Im Mittleren Reich (2100 bis 1800 v. Chr.) wurde „gar nicht einmal so wenig“ gedichtet, wobei über die zeitliche Zuordnung diskutiert wird. Und das Neue Reich (16. bis 12. Jahrhundert v. Chr.) hat eine gut dokumentierte (und erhaltene) Literaturproduktion. Aus den späten Epochen der ägyptischen Geschichte, also den letzten vorchristlichen Jahrhunderten, sind die meisten Handschriften überliefert, „mehr als aus allen anderen Epochen zusammen“, sagt Quack. Das liegt nicht unbedingt an größerem Literaturschaffen, sondern an den besseren Erhaltungschancen und einigen Funden aus gut bestückten Tempelbibliotheken.

Geschrieben wurde auf Papyrus, deshalb sind die meisten Texte nur in Fragmenten erhalten, „mit denen man dann Puzzle spielen muss“, sagt der Heidelberger Ägyptologe. Etwa beim sogenannten „Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele“. Darin trägt ein des Daseins Überdrüssiger seiner Seele in vier Gedichten vor, wie verlockend ihm der Tod vor Augen steht. Dem muss die Seele – nach ägyptischer Vorstellung an den Körper gebunden – natürlich Paroli bieten. Der Lebensmüde lässt nicht locker, die Seele einigt sich mit ihm, bei ihm zu bleiben. Was das bedeutet, bleibt offen. Quack liest es als „Versöhnung der beiden Standpunkte“.

Themen und auftretendes Personal der Erzählungen entstammen meist dem Bereich der Zivilverwaltung und des Tempelbetriebs. Manchmal stellen sie eine Mischung aus Unterhaltung und Geschichtsbewusstsein dar, ohne jedoch verbindliche Geschichtsschreibung zu sein. Oft sind sie in der Zeit eines bestimmten Pharaos angesiedelt. Dieser ist aber niemals selbst Protagonist. „Offenbar war der so abgehoben, dass man über ihn nicht in ‚profaner’ Weise erzählen kann“, sagt Quack.

Der „altägyptische“ Sinuhe etwa dient dem Kronprinzen Sesostris auf einem Feldzug gegen die Libyer, befürchtet aus unbekannten Gründen Strafaktionen gegen sich, als dessen Vater vermutlich ermordet wird, und flieht nach Palästina. Er verdurstet fast, wird aber gerettet, kommt zu hohen Ehren, Macht und vielen Kindern. Im Alter packt ihn das Heimweh, da trifft ein Brief des Pharao ein, der ihn von aller Schuld freispricht und zur Rückkehr auffordert. Was Sinuhe erfreut tut; vom Pharao hochgeehrt, kann er sich beruhigt auf sein Ableben vorbereiten. „Gewisse Elemente des Umfeldes in der Erzählung sind belegt“, sagt Joachim Friedrich Quack, „der Hauptheld aber ist ansonsten unbekannt.“ Die Verserzählung wird allgemein als ein, wenn nicht der Gipfel altägyptischer Literatur gepriesen.

Um Autor zu sein, musste man schriftkundig sein, was mindestens 90 Prozent der Bevölkerung zu Zuhörern machte. Viele Texte, sagt Quack, „erwecken sowieso den Eindruck, als wären sie fürs Ohr komponiert“. Einzelne, namentlich bekannte, Autoren gibt es nicht, vielmehr passte jeder Abschreiber oder Erzähler die Geschichte dem Zeitgeist und seinen eigenen Intentionen an. „Es dürfte schwer sein, zwei Abschriften eines Werks zu finden, die tatsächlich identisch sind.“

Die heutigen Literaturbegriffe – Epik, Lyrik, Dramatik – sind kaum auf Altägypten zu übertragen. Es gibt Satiren und Lebenslehren („Wer ein Straßenmädchen liebt, dessen Börse ist an der Seite aufgeschlitzt“), Heldenerzählungen und Priestergeschichten, Fabeln und Weisheitstexte („Wer den Stein erschüttert, auf dessen Fuß fällt er“).

Religiöse Traktate sind ebenso geläufig wie Gelagepoesie, „bei der es richtig zur Sache geht, gelegentlich durchaus in Richtung Pornografie“, sagt Quack. Und natürlich gehört die Liebe zu den immer wiederkehrenden Themen, etwa wenn sich ein ägyptischer Heerführer während des erbitterten Zweikampfes mit einer Amazone in diese verliebt. Sie tut es ihm gleich und beide ziehen glücklich nach Indien.

Das Lieblingsstück des Heidelberger Ägyptologen ist der „Mythos vom Sonnenauge“, ein Erzählwerk an der Grenze zwischen Religion und Literatur aus der ägyptischen Spätzeit: Die Tochter des Sonnengottes trennt sich im Zorn von ihrem Vater und zieht in die Fremde nach Nubien. Quack sieht darin eine Parabel für die 70-tägige Unsichtbarkeitsphase des Sirius, was der Abwesenheit der wichtigen Göttin Isis (oder Hathor) gleichkam, die mit dem Stern gleichgesetzt wurde.

Wenn im ägyptischen Götterhimmel etwas schiefläuft, geht es den Menschen schlecht, also muss die Ordnung wiederhergestellt werden. Ein Äffchen, das natürlich ein Gott ist, wird ausgeschickt, um die Sonnentochter, die inzwischen Katzengestalt angenommen hat, zurückzuholen. Affe und Katze unterhalten sich weitschweifig und sehr theologisch, mit Fabeln und Zwiesprache über die Welt und die Götter. Darüber vergessen sie fast die Heimreise. Aber schließlich kommen sie doch noch im Haus des väterlichen Sonnengottes an. Der freut sich über die wiedergewonnene Tochter, gibt ein großes Fest – und alles, alles wird wieder gut.

- Michael Zick war langjähriger Archäologie-Autor des Tagesspiegels. Wie berichtet, ist er am 29. November mit 70 Jahren verstorben. Dies ist sein letzter Artikel.

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