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Der Schauplatz des Dramas. Biotrial hat alle Regeln befolgt, bescheinigen Experten. Trotzdem bleiben Fragen.

© Loic Venance, AFP

Update

Das Drama von Rennes: Tod durch Schlamperei bei Medikamententest

Guillaume Molinet ist tot, vier Männer erlitten Hirnschäden. Zum ersten Mal hatte ein Medikamententest in Europa solche Folgen für zuvor gesunde Teilnehmer. Nun liegt der Abschlussbericht der französischen Experten vor.

Mit entschlossenen Gesichtern sitzen Laurent und Florence Molinet vor den Mikrofonen und Kameras. Sie wollen Antworten. Warum musste ihr Bruder, ihr Partner, der Vater von vier Kindern während eines Arzneimitteltests im Januar sterben? Was war los mit BIA 10-2474?

BIA 10-2474 – dieser Code steht für ein Mittel des portugiesischen Pharmaherstellers Bial, das Guillaume Molinet gemeinsam mit fünf weiteren gesunden Männern ab dem 7. Januar eingenommen hatte. Sie waren die ersten, die die Kapseln an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen in hoher Dosierung schluckten. Zweieinhalb Mal mehr als die Gruppe, die vor ihnen dran war. Am 10. Januar bekam Molinet Kopfschmerzen, Seh- und Gleichgewichtsstörungen. Er wurde in die Uniklinik von Rennes eingeliefert. Die Studie wurde am nächsten Tag gestoppt. Zu spät, denn vier weitere Tester klagten bald über vergleichbare Symptome. Molinet starb am 17. Januar, die anderen bleiben mit Hirnschäden unterschiedlichen Schweregrads zurück.

Seitdem untersuchen drei Institutionen die Hintergründe: die Polizei, die Generalinspektion für soziale Angelegenheiten und die französische Arzneimittelaufsicht ANSM, die die Studie zugelassen hatte. Kurz nach den dramatischen Ereignissen trat die französische Gesundheitsministerin Marisol Tourraine vor die Presse. Es seien keine Fehler bei der Studie passiert, verkündete sie. Aber es seien grobe Fahrlässigkeiten bei der Testfirma aufgetreten, die sie durchgeführt hatte: Biotrial.

Zu einem anderen Zwischenergebnis kam ein unabhängiges Expertengremium, das die ANSM einberufen hatte. Die schweren Nebenwirkungen seien auf das Molekül zurückzuführen, sagte der Behördenleiter, Dominique Martin, am 7. März. Es wirke sehr unspezifisch, habe sich wahrscheinlich im Gehirn angereichert und wurde dadurch zum Gift.

Das Molekül lagerte sich im Gehirn ab und wurde zum Gift

Nun liegt der Abschlussbericht vor. Erneut rückt er den Hersteller Bial in den Vordergrund. Die Tierversuche seien lückenhaft und nur mit zusätzlichen Daten verständlich, die Studie riskant geplant gewesen. Zudem beklagen die zwölf Experten Übersetzungsfehler, Daten sollen falsch zugeordnet worden sein. Verschiedene Institute haben mit unterschiedlichen Begriffen gearbeitet, so dass Warnsignale untergingen. Das könne bei den Behörden zu falschen Schlüssen geführt haben. Dennoch: Die Studie sei regelkonform durchgeführt worden.

Die Molinets glauben ihnen nicht. Zu oft waren die französischen Gesundheitsbehörden in Skandale verwickelt. Sie haben den Anwalt Jean-Christoph Coubris engagiert, einen Spezialisten für Medizinrecht aus Bordeaux. „Wir denken, dass die Studie mit ihren Unregelmäßigkeiten nicht nach geltenden Regeln abgelaufen ist“, sagt er. Er will, dass der Fall weiterhin untersucht wird und hat für die Familie Anklage erhoben. Gegen Unbekannt.

Denn auch der Abschlussbericht wirft Fragen auf. Fragen, die Zulassungsbehörde und Ethikkommission nicht gestellt haben, bevor die Studie mit BIA 10-2474 gestartet ist. Sie begutachteten ein Dossier des Herstellers und das Studienprotokoll. Letzteres bescheinigt dem Mittel eine ungewöhnliche Bandbreite möglicher Einsatzgebiete: gegen Schmerzen, Angststörungen, Zittern bei Parkinson, Krebs.

BIA 10-2474 gehört zu einer Gruppe von Molekülen, die im Endocannabinoid-System des Menschen wirken, also im Gehirn. Dort soll es den Abbau von schmerzstillenden, entzündungshemmenden und angstlösenden Cannabis-ähnlichen Stoffen durch das Enzym FAAH verhindern. Solche FAAH-Hemmer sind bekannt. Ähnliche Substanzen testeten Pfizer, Janssen oder Vernalis. Sie wurden nicht wegen Nebenwirkungen, sondern wegen Wirkungslosigkeit eingestellt. Eine trügerische Sicherheit?

Ein herkömmliches Schmerzmittel half Mäusen besser

Selbst den ANSM-Experten war nicht ganz klar, welches Ziel diese Studie eigentlich hatte. „Bial scheint geplant zu haben, BIA 10-2474 vor allem als Schmerzmittel zu entwickeln“, steht da. Das bestätigte die Firma am 18. März. Aber auf welcher Grundlage entschieden zuvor Zulassungsbehörde und Ethikkommission?

Um ein Medikament zum ersten Mal am Menschen zu testen, muss ein Hersteller umfangreiche Vorversuche nachweisen. An Tieren und in Zellkulturen wird überprüft, wie der neue Wirkstoff ausgeschieden wird, zu welchen Substanzen er abgebaut wird und mit welcher Dosis man beim Menschen beginnen kann. Diese Versuche seien lückenhaft, sagt Stefan Engeli, klinischer Pharmakologe an der Medizinischen Hochschule Hannover. „Sie haben mit viel zu hohen Konzentrationen bei den Tieren begonnen.“ Damit hätten sie versäumt, den Verlauf von Dosis und Wirkung gründlich zu zeigen. Als sie Mäusen zum Vergleich ein anderes Schmerzmittel gaben, wirkte das herkömmliche Mittel außerdem besser. Diese Daten lagen den Zulassungsbehörden vor. Sie reagierten nicht darauf.

Und dann sind da die toten Tiere. Grundsätzlich ist das bei Medikamentenprüfungen nicht ungewöhnlich. „Aber man muss ihren Tod erklären“, sagt Engeli, der auch Mitglied der Ethikkommission in Hannover ist. Eine solche Begründung fehlte im Zulassungsdossier für zwei Hunde und sechs Affen. „Das hätte ich bei einer Bewertung als Ethikkommissionsmitglied eingefordert“, sagt Engeli. Die französische Kommission zum Schutz von Probanden (CDP) und die Zulassungsbehörde sahen darüber hinweg. Erst im Abschlussbericht erscheint zumindest der Tod des Affen begründbar.

Ein Verstoß gegen den gesunden Menschenverstand

Überhaupt war die Zahl der Tierversuche viel höher als üblich. Auch das machte weder die CDP noch die ANSM stutzig. „Das zeigt doch nur, wie gründlich Bial gearbeitet hat“, wendet Klaus Weber ein. Zum Zeitpunkt der Vorabtests war er Chef der Pathologie der Firma Harlan, wo die Tierversuche vorgenommen wurden. Heute leitet er Anapath, das Institut, das die Gewebeschnitte, Organe und Befunde aus eben jenen Tierversuchen begutachtete. Er spricht zum ersten Mal mit den Medien. Und er ärgert sich über die Vorwürfe, die seinem portugiesischen Auftraggeber gemacht werden. „Bial ist unglaublich seriös, die Datenlage überwältigend. Kein einziger Befund, den ich gesehen habe, hätte erahnen lassen, dass so etwas passiert“, sagt er.

Andere finden die Masse der Tierversuche verdächtig. „Vielleicht hat die Datenlage nicht für eindeutige Ergebnisse ausgereicht“, vermutet Markus Leweke vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Das argwöhnte wohl auch das Expertengremium. Weil die Hunde eingeschläfert werden mussten, bevor sie die höchste Dosierung erreicht hatten, war Bial wohl gezwungen, nach einem anderen Tiermodell zu suchen.

Der Abschlussbericht offenbart grobe Fahrlässigkeit: Bevor sie das Mittel in den höheren Dosierungen testeten, griffen die Ärzte nicht etwa auf Ergebnisse der unmittelbaren Vorgänger zurück, sondern auf die der Testgruppe davor. Für Molinet und seine Mittester, die immer wieder 50 Milligramm schluckten, galten also nicht die Erkenntnisse aus der Gruppe mit 20 Milligramm, sondern aus der mit zehn. Fragwürdig sei zudem, warum die Dosis überhaupt bis auf 100 Milligramm steigen sollte. Denn mehr als fünf Milligramm des Moleküls sind nicht nötig, um das FAAH-Enzym zu hemmen. Noch problematischer: Während die Menge zuerst nur langsam gesteigert wurde, wurden die Abstände dann immer größer. Rein formal ist dies erlaubt. Kein Regelverstoß, aber einer gegen den „gesunden Menschenverstand“, sagt der Leiter der Expertengruppe, Bernard Bégaud.Nicht zuletzt, weil es Hinweise aus den Tierversuchen gab, dass sich der Abbau von BIA 10-2474 zwischen 20 und 40 Milligramm abrupt verlangsamt.

Keine Zwischenauswertung für die Ethikkommission

Und warum wurden von Anfang Juli 2015 bis Januar 2016 so viele Gruppen nacheinander getestet, ohne Zwischenauswertung für die Ethikkommission? Das stößt nicht nur Engeli auf. Mehrfach bestätigen Mitglieder von Ethikkommission, dass der Studienplan riskant war. In Deutschland wäre es nicht akzeptiert worden. Das gibt selbst Jean-Luis Pinquier zu. Er ist Präsident von „Club Phase 1“, eines französisches Verbands aus Forschern und Pharmaindustrie für erste Versuche am Menschen. „Ja, in Deutschland ist das nicht üblich; in Frankreich und Großbritannien jedoch durchaus“, sagt er. Bedeutet das im Umkehrschluss, dass die Probanden nicht einmal innerhalb Europas gleichermaßen geschützt sind?

Nach Auskunft des Verbandes forschender Arzneimittelhersteller weiß niemand, wie viele Phase-I-Studien es in den Ländern Europas gibt. Sie müssen bislang nicht öffentlich registriert werden. Auch Bial tat das nicht. Im Gegenteil: Die Firma hielt Dokumente noch während der Aufklärung des Falls mit dem Hinweis auf Geschäftsgeheimnisse zurück. Das Expertengremium fordert nun, künftig alle Daten aus ersten Versuchen am Menschen für Forscher freizugeben.

Vielleicht konnte man das Unglück nicht verhindern. Vielleicht wäre die Studie auch nach einer gründlicheren Prüfung genehmigt worden. Aber dieser Blick auf Details hat gefehlt. Das ist nicht nur für Molinets Familie folgenschwer. Täglich nehmen Menschen an Medikamententests teil. Sie vertrauen auf ein streng reguliertes Sicherheitsnetz. Bei Guillaume versagte es.

Nachtrag:

Kurz nach Veröffentlichung des Abschlussberichts wurde die Aufsichtsbehörde ANSM von der Polizei für Umwelt und öffentliche Gesundheit durchsucht und Dokumente und Computer beschlagnahmt.

Edda Grabar

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