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Émile Zola an seinem Schreibtisch.

© Félix Nadar

Debatte um die Rolle der Intellektuellen: Sie klagen an - bestenfalls

Was sind Intellektuelle und wann sind sie gefragt? Die Debatte währt seit Beginn des 20. Jahrhunderts. In Krisensituationen wird nach ihren Urteilen gerufen, dann wieder wird der "Tod der Intellektuellen" verkündet.

Als der Schriftsteller Navid Kermani unlängst im Bundestag seine bewegende Rede zum 65. Jubiläum des Grundgesetzes hielt, war der Beifall groß. Endlich einer, der ungeschönt spricht, lobt und tadelt, einer, der von der Gedenkroutine abweicht. Endlich ein Intellektueller, der etwas gesellschaftlich und politisch Relevantes zu sagen hat. Dabei schwang auch die Sehnsucht mit, das möge viel öfter geschehen: Wo sind eigentlich die anderen Intellektuellen, die sich klug in die großen Debatten einmischen?

Tatsächlich wird, wann immer eine gesellschaftliche Diskussion hochkocht, nach den Intellektuellen gerufen. Von ihnen erhofft man sich, dass sie – unabhängig von politischen, wirtschaftlichen und technischen Eliten – erklären, wie die aktuell drängendsten Vorgänge wirklich zu verstehen sind. „Man sehnt sich nicht nur nach Experten, sondern nach engagierten Intellektuellen, die ihr Expertentum und ihre intellektuelle Tätigkeit mit Moralvorstellungen verbinden“, schreibt dazu der Kultursoziologe Stephan Moebius – und fügt die Klage an: „Es scheint an Intellektuellen zu fehlen, die diese Fragen stellen und die aktuellen Ereignisse für uns deuten und in einen größeren Zusammenhang stellen.“ (hier geht es zu Moebius' Artikel)

Die Debatte ist so alt wie der Begriff des Intellektuellen selbst: Wer oder was ein Intellektueller sei und worin seine politische und gesellschaftliche Aufgabe bestehe, ist seit mehr als hundert Jahren stets ein umkämpfter Gegenstand der intellektuellen Auseinandersetzungen selbst gewesen.

Zolas "J'accuse" begründete die neue Sozialfigur des Intellektuellen

Dass das 20. Jahrhundert auch das „Jahrhundert der Intellektuellen“ war, scheint heute unstrittig. Mit Émile Zolas berühmtem „J’accuse“ 1898 in die Welt getreten, begleitete der Intellektuelle als moderne Sozialfigur die weltanschaulichen Kämpfe des „Zeitalters der Extreme“ (Eric Hobsbawm). Nachdem Émile Zola mit seinem am 13. Januar 1898 erschienenen Aufruf gegen die Verurteilung des jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus wegen Hochverrats protestiert und schwere Vorwürfe gegen Militär und Justiz erhoben hatte, folgten ihm zwei Tage später eine Reihe weiterer namhafter Schriftsteller und Akademiker. Diese unterschrieben eine am 15. Januar erschienene Petition zur Revision des Dreyfus-Urteils. Diese Petition ist als „protestation des intellectuels“ bekannt geworden.

Die Dreyfus-Affäre prägt die Intellektuellendefinitionen des 20. Jahrhunderts – auch als der Begriff von einer politischen Kampfvokabel in eine wissenschaftliche Analysekategorie überführt wurde. Das zeigt schon die frühe Intellektuellensoziologie Karl Mannheims. Er schrieb allein den Intellektuellen die Fähigkeit zu, die grundsätzliche „Seinsgebundenheit“ des Denkens aufgrund ihres „sozial freischwebenden“ Status transzendieren und dadurch Einsicht in den Gesamtzusammenhang der Gesellschaft gewinnen zu können. Mannheim wies ihnen die Rolle von „Wächtern“ der Gesellschaft zu.

Dabei drohte allerdings aus dem Blick zu geraten, dass es neben den kritischen Intellektuellen immer auch affirmative Intellektuelle gab. „Kritik als Beruf“ und „Politik als Beruf“ ließen sich nicht immer fein säuberlich voneinander trennen.

Sich in einer Sache von allgemeinem politischen Interesse zu Wort melden

Dieses Problem ist in der deutschen Intellektuellengeschichte besonders virulent, da sich hier erst sehr spät ein positiver Intellektuellenbegriff entwickelt hat und es eine starke Tradition der konservativen Intellektuellenkritik gibt. Das hat manche Kommentatoren dazu veranlasst, von Deutschland als dem „Land der Mandarine“ zu sprechen, das – vor allem im Unterschied zu Frankreich – grundsätzlich intellektuellenfeindlich sei.

Sind aber Intellektuellenkritiker wie Arnold Gehlen oder Helmut Schelsky nicht selbst auch Intellektuelle? Man sollte Intellektuelle daher ganz allgemein als Angehörige akademischer oder künstlerischer Berufe verstehen, die sich eine gewisse Reputation erarbeitet haben und sich nun in einer Angelegenheit öffentlich zu Wort melden, die von allgemeinem politischen Interesse ist. Das macht deutlich, warum Schriftsteller für die Rolle prädestiniert sind. Als Spezialisten des Wortes sind sie der öffentlichen Rede mächtig. Anders aber als Wissenschaftler – die häufig nur als Experten ihres jeweiligen Fachgebiets öffentlich auftreten – sind Dichter in öffentlichen Angelegenheiten per se Generalisten und reden im eigenen Auftrag.

Vieles spricht dafür, dass Voltaire der erste Intellektuelle war

Nun sprechen manche Gründe sogar dafür, die Geburt des Intellektuellen ein Jahrhundert vorzuverlegen und als ersten Intellektuellen Voltaire zu nennen. Die Aufklärung und der Aufstieg des Bürgertums haben im 18. Jahrhundert nicht nur zur Entstehung der freien Berufe geführt. Das kritische Räsonnement etablierte sich als Modus der politischen Auseinandersetzung. Indem sich die gebildeten Bürger an diesem Räsonnement beteiligt haben, agierten sie als Intellektuelle avant la lettre. Dabei waren sie nicht auf bestimmte aufklärerische oder universalistische Positionen festgelegt, denn die Vertreter der Gegenaufklärung können in diesem Sinn ebenfalls als Intellektuelle gelten.

Mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert veränderten sich die Bedingungen intellektueller Intervention jedoch erneut. Mit der fortschreitenden Demokratisierung und dem Aufkommen der modernen Massenpresse entstand ein neuartiger politischer Massenmarkt. Der Historiker Gangolf Hübinger spricht von einer „kulturellen Doppelrevolution um 1900, als alle Lebensbereiche wissenschaftlich durchleuchtet und zugleich auf den Prüfstand einer demokratisierten Öffentlichkeit gestellt wurden“. Damit veränderten sich auch die Bedingungen intellektueller Intervention fundamental.

Prekäres Verhältnis zur Weimarer Demokratie

Die Forschung zur deutschen Intellektuellengeschichte konzentrierte sich lange auf die Weimarer Republik. Die Arbeiten untersuchten das prekäre Verhältnis der Intellektuellen zur Weimarer Demokratie und das antidemokratischen Denken, das zumeist auf der Seite der Rechtsintellektuellen untersucht wurde. In den letzten Jahren dehnte sich die Forschung nicht nur auf das antidemokratische Denken von links aus, sondern auch auf die die politischen Lager übergreifenden „Austauschdiskurse“ der Weimarer Zeit. Die Frage nach der Anziehungskraft des Faschismus für Intellektuelle bleibt weiter virulent.

Die Frage nach der Rolle der 68er-Bewegung und der sogenannten Neuen Linken der 1970er Jahre für die Geschichte der jungen Bundesrepublik ist in der Forschung inzwischen in den Hintergrund getreten und hat einer allgemeineren Beschäftigung mit den intellektuellen Diskussionen um den Staat Platz gemacht. So wurden in den letzten Jahren auch konservative Legitimationsdiskurse der Bonner Republik untersucht oder die Debatten über drohende „Unregierbarkeit“ in Zeiten einer „neuen Unübersichtlichkeit“ in den 1970er und 1980er Jahren rekapituliert.

Nach dem "Ende der Geschichte" kam der "Tod der Intellektuellen"

Schon 1983 sprach der französische Philosoph Jean-François Lyotard vom „Grabmal des Intellektuellen“ und begründete dessen Tod mit der Verunsicherung durch die Postmoderne: In Zeiten, in denen die universelle Wahrheit als regulative Leitidee kritischer Diskurse verabschiedet würde, hätten auch die Intellektuellen als deren Fürsprecher ausgedient. Die Rede vom Tod der Intellektuellen verstärkte sich seit dem Ende des Kalten Krieges. Nach dem „Ende der Ideologien“ (Daniel Bell) oder gar dem „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) schienen die Intellektuellen als Träger der modernen Ideenkämpfe keine Funktion mehr zu haben.

Heute bloggen sie oder sitzen in Fernsehshows

Die anhaltende Debatte über den Status der Intellektuellen seit dem Ende des 20. Jahrhunderts ist aber alleine schon ein Zeichen für das Fortbestehen der Intellektuellen. Die medialen Bedingungen intellektueller Interventionen haben sich mit der digitalen Revolution und dem Ende des Gutenberg-Zeitalters erneut geändert. Es ist also durchaus sinnvoll, mit Blick auf die Gegenwart nach einem neuen Typus des „Medienintellektuellen“ oder des „virtuellen Intellektuellen“ zu fragen, dessen primäres Kommunikationsmedium die Fernsehshow oder der Internet-Blog ist. Es spricht wenig dafür, die Epoche der Intellektuellen mit der heutigen Medien- und Wissensgesellschaft enden zu lassen.

Der Autor ist Historiker an der Freien Universität Berlin. Sein Artikel basiert auf einem Aufsatz aus Docupedia-Zeitgeschichte, einem Online-Forum, in dem Debatten aktueller zeitgeschichtlicher Forschung dokumentiert werden.

Daniel Morat

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