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Depressionen: Umstrittene Lebensretter

US-Daten zeigen: Medikamente gegen Depressionen, die als riskant galten, können Suiziden vorbeugen.

Wenn Kinder oder Jugendliche sterben, ist eine der häufigsten Ursachen dafür heute, dass sie sich das Leben selber nehmen. In den USA ist beim Suizid von Teenagern ein starker Anstieg zu verzeichnen – und das, nachdem die Rate der Selbsttötungen seit 1990 kontinuierlich gesunken war. Das berichtet der Morbidity and Mortality Weekly Report der Centers of Disease Control (CDC) in seiner gestrigen Ausgabe.

Am auffälligsten ist der Anstieg bei den Mädchen zwischen zehn und 14 Jahren. Haben sich im Jahr 2003 56 von ihnen das Leben genommen, waren es 2004 – dem letzten Jahr, aus dem die Daten ausgewertet wurden – 96 Mädchen. Ein Anstieg von 76 Prozent. Auch bei den Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren wuchs die Zahl der Suizide. Zwar ist der Anstieg hier prozentual weniger deutlich, doch dafür sind die absoluten Zahlen in dieser Altersgruppe höher. „Das ist der höchste Zuwachs, den wir innerhalb der letzten 15 Jahre gesehen haben. Wir wissen jedoch nicht, ob es sich um eine einmalige Ausnahme oder um einen Trend handelt“, sagte Ileana Arias vom CDC bei der Präsentation der Zahlen. Auch auf der Suche nach den Gründen müsse man vorsichtig sein, denn der Suizid sei immer ein komplexes und multidimensionales Problem.

Wenn ein älteres Kind oder ein Jugendlicher „lebensmüde“ wird, kündigt sich das seelische Leid zumeist vorher an. Bei neun von zehn Jugendlichen wurde zuvor von einem Arzt schon mindestens eine psychiatrische Erkrankung diagnostiziert. Das ergab im Jahr 2005 eine Studie, für die Daten der Weltgesundheitsorganisation WHO aus verschiedenen Ländern ausgewertet wurden. Am häufigsten sind Depressionen verschiedener Ausprägungen, besonders bei den Mädchen.

Seit dem Ende des Jahres 2003 wurden Kindern und Jugendlichen in den USA, wie auch weltweit, deutlich weniger Medikamente gegen Depressionen verordnet als in den Jahren zuvor. Könnte das zu einer Zunahme der Suizide geführt haben? Gerade davor wollten Zulassungsbehörden wie die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) die jungen depressiven Patienten bewahren, indem sie vor der Einnahme solche Medikamente warnten. Denn Studien, in denen Mittel aus der Gruppe der Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) gegen Scheinmedikamente getestet worden waren, hatten ergeben, dass Heranwachsende, die die Medikamente einnahmen, häufiger Suizidversuche starteten. So wurde die Befürchtung laut, dass Mittel, die gegen Depressionen helfen sollen, den Jugendlichen mehr schaden als nützen. Schon Ende 2003 hatte FDA-Berater Thomas Laughren allerdings gewarnt: „Ein Irrtum, gleich in welche Richtung, hätte weitreichende Folgen.“ Für die anfänglich erhöhte Suizid-Gefahr haben Experten eine Erklärung parat. „Das Problem besteht darin, dass die Antidepressiva zunächst meist den Antrieb steigern, dass es aber etwas länger dauert, bis auch die Stimmung besser wird“, sagt Oliver Bilke, der im Vivantes-Klinikum Hellersdorf die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie leitet. In dieser Zeitspanne, in der der Patient vielleicht von Unruhezuständen und Ängsten geplagt wird, hat er dann möglicherweise die „Energie“, etwas in die Tat umzusetzen, was seinem Lebensgefühl schon länger entsprach. Dass der Schritt vom Suizid-Gedanken zur irreversiblen Tat genau dann gegangen werden könnte, wenn die Therapie beginnt, die eigentlich aus dem tiefen Loch herausführen soll, wissen Ärzte aus der Erwachsenenmedizin schon seit über zehn Jahren. Damals hatten Fallberichte über Patienten, die sich nach der Einnahme des SSRI Fluoxetin das Leben genommen hatten, die Fachöffentlichkeit aufgeschreckt.

„Wir haben unser Verordnungsverhalten aufgrund der Warnhinweise allerdings nicht verändert“, sagt Charité-Psychiatrie-Professorin Isabella Heuser. „An den neuen Daten kann man sehen, dass gut verträgliche Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer durchaus lebensrettend sein können.“ Wichtig sei jedoch ein ausführliches Gespräch mit den Patienten darüber, dass die Antriebssteigerung zu Herzrasen und plötzlichen Angstzuständen führen kann – es mit der stimmungsaufhellenden Wirkung aber länger dauert. „Wenn Patienten nach drei bis vier Tagen solche Symptome haben, können wir mit Beruhigungsmitteln helfen.“ Nach zehn bis 14 Tagen könne man diese dann wieder absetzen.

Jugendlichen Benzodiazepine zu verordnen, ist allerdings deutlich heikler. „Zwischen 14 und 17 ist das Risiko, in eine Abhängigkeit zu geraten, am höchsten“, sagt Bilke. Man versuche deshalb eher Antidepressiva zu verschreiben, die leicht beruhigend wirken. Problematisch ist jedoch auch, dass die meisten Mittel nicht an Kindern erprobt sind. Auf jeden Fall sind sie nur Teil eines Gesamtplans, zu dem eine Verhaltenstherapie gehört. Die Jugendlichen werden zudem engmaschig begleitet, „auch in jugendgemäßer Form per E-Mail und SMS“.

Die Aufklärung der Eltern und der Heranwachsenden ist auf jeden Fall extrem wichtig. „Man darf nicht in Eile sein, schließlich greift man in den kindlichen Hirnstoffwechsel ein“, mahnt Bilke. Viele Jugendliche, die unter einer Depression leiden, haben solche Eingriffe allerdings längst selbst gestartet. „Mit Cannabis kommen sie oft schneller und bequemer in eine gute Stimmung, allerdings um den Preis, sich daran zu gewöhnen und eine Therapie zu versäumen.“ Kiffen die Jugendlichen, kann das also auch ein Anzeichen für eine Depression sein.

Wichtig ist, dass Eltern und Kinder wissen, dass Depressionen heilbar sind. Was sich anfühlt, wie eine tiefe Traurigkeit, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint, ist eine häufige Krankheit, gegen die es erfolgreiche Medikamente und Therapien gibt.

Adelheid Müller-Lissner

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