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Eberhard Lämmert sitzt auf einem Stuhl und blickt in die Kamera.

© Mike Wolff

Der Literaturwissenschaftler Eberhard Lämmert wird 90: Sein Bildungsroman

Der Berliner Literaturwissenschaftler Eberhard Lämmert hat die Erzähltheorie ebenso geprägt wie die Freie Universität. Aus Anlass seines 90. Geburtstags am kommenden Sonnabend drucken wir Passagen aus einem langen Gespräch mit Kollegen und Wegbegleitern.

Er ist ein Mann der entschlossenen Wechsel: Dem frühen Schritt von der Mineralogie zur Germanistik folgte der zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft. Doch in seinem Engagement für Berlin und die hiesige Wissenschaftslandschaft könnte das Wirken des Berliner Literaturwissenschaftlers Eberhard Lämmert nachhaltiger nicht sein. Über seinen persönlichen Bildungsroman und seine akademischen Wege hat er seinen Kollegen Petra Boden, Justus Fetscher und Ralf Schnell jetzt in einem langen Gespräch für die Festschrift zu seinem 90. Geburtstag am 20. September Auskunft gegeben. Im Folgenden dokumentieren wir einige Passagen.

Weimar und die Spur der Steine

Mein Studium begann 1942 mit Mineralogie und Geologie. Als ich aus dem Krieg zurückkam, habe ich bald ein oder zwei kunstgeschichtliche oder germanistische oder philosophische Vorlesungen zu meinem Geologie- und Mineralogiestudium hinzu belegt, und als ich 1948 mal drei oder vier belegt habe, da wurde mir dann bewusst, dass das eigentlich auch eine bessere Ausrichtung für mein Leben würde.

Deutsch lag mir am nächsten, weil in diesem Fach meine Eins beständig war, und ich hatte in der Oberstufe zum Glück einen Deutschlehrer, der wegen einer Lähmung nicht fronttauglich war, der es aber auch besonders verstand, uns zu stimulieren und zum Lesen anzuhalten. Mein Gymnasium hatte überdies den unvergesslichen Vorzug, jede Prima eine Woche lang zu den „Weimarer Festspielen“ fahren zu lassen, wo wir wiederum das Glück hatten, sowohl die „Iphigenie“ als auch an zwei Abenden den gesamten „Wallenstein“ zu sehen, und obendrein noch Lesungen mitbekamen. Das war eine dichtgedrängte literarische Woche. Der Deutschunterricht, den ich in den Oberklassen genoss, und dieses Ereignis machen mir meinerseits plausibler, warum ich, obwohl ich die Geologie und Mineralogie gerne mochte, dann doch den Wechsel zu den Geisteswissenschaften vollzogen habe.

Jedenfalls fühle ich mich auch heute noch hinsichtlich des Wechsels, den ich vollzogen habe, und in dem Beruf, den ich dann lange gehabt habe, sehr wohl.

Bis nahe an mein jetziges Alter habe ich übrigens – wohl auch in Erinnerung an meine Lebensaussichten vor dem Schwenk in die Literaturwissenschaft – Gesteine gesammelt, und inzwischen ist eine ansehnliche Sammlung davon nicht nur in meinem Arbeitszimmer, sondern auch in einem eigenen Raum untergebracht, der mir zugleich als Bücherstube dient. Selbst vor meiner Haustür begrüßen den Besucher ein schwarz-roter Klotz aus Eifeler Vulkangestein, den ich in der Nähe unseres Ferienhauses in der Eifel fand, und ein gelblich-weißer Dolomit aus den südlichen Alpen. So sind auch meine bergmännisch-geologischen Interessen in meinem Leben nicht ohne Spur geblieben.

Immer wieder auf Mississippifahrt

Als ich im September 1945 aus der Kriegsgefangenschaft kam, hatte ich einen gewaltigen Lesehunger, und weil meine spätere Frau, Luise Martini, damals als Buchhändlerin arbeitete, hatte ich den Vorzug, schon vor 1948 eine gehörige Menge Literatur zu lesen und zu sammeln. Vornean standen dabei ausländische Autoren, die unter dem Nationalsozialismus nur schwer oder gar nicht erreichbar waren. Hemingway zum Beispiel, Graham Greene und Faulkner, Sartre und Camus oder auch Dostojewskij und Tolstoi. Ich könnte noch eine ganze Reihe anderer Autoren nennen – jedenfalls hat das dahin geführt, dass ich mich bald auf einen gehörigen Literaturfundus verlassen konnte, der es mir dann nach der Währungsreform erleichterte, meine Fakultät zu wechseln.

Ich weiß, dass ich während meiner Studienzeit eine Zeit lang heftig mit Thomas Mann beschäftigt war, weil ich, als er 1948 seinen Deutschlandbesuch machte, der innerhalb der Universität krasse Meinungsunterschiede an den Tag brachte, sehr auf seiner Seite stand. Außerdem las ich alles, was greifbar war, so etwa alles von George Bernard Shaw.

Tom Sawyer habe ich ungeheuer geliebt, und die Mississippifahrt von Huckleberry Finn gehört sogar zu meinen wiederholten Lektüren. Ebenso wie Tristram Shandy, dessen Aufbau ja wahrhaft umständlich und nur schwierig zu durchschauen ist.

Für eine entgrenzte Literaturwissenschaft

Ich habe bis zu meiner Emeritierung immer wieder die Idee verfochten, dass die Literaturwissenschaft in Deutschland zu ausschließlich historisch, d. h. als Literaturgeschichte verstanden wurde, denn – wenn überhaupt Gegenstände wie Romane oder Novellen als Gattung zu fassen sind, dann muss es Eigentümlichkeiten geben, die beständig sind, auch wenn sie in ihren einzelnen Spielformen und Zusammensetzungen wechseln. Und insofern war ich dann – sei es dadurch, dass ich bei Günther Müller angefangen habe zu studieren, sei es dadurch, dass ich seine morphologischen Untersuchungen besonders reizvoll für mich fand – auf dem Wege, eben mehr auf Gestaltungsformen selbst zu achten als nur auf deren historische Sequenz.

Schon nach meinem Vortrag „Germanistik – eine deutsche Wissenschaft“ (auf dem Germanistentag 1966), der sich mit der hartnäckigen Vorstellung von einem spezifisch „deutschen Wesen“ unserer Sprache und Dichtung kritisch auseinandersetzte und für vergleichende Untersuchungen zeitgenössischer europäischer Sprachen und Literaturen eintrat, gab es neben lebhafter Unterstützung auch sichtbare Missfallensäußerungen. Auch als Albrecht Schöne daraufhin mit einem hörbaren Türenschlag den Saal verließ, nahm die Diskussion weiterhin heftige Formen an, so dass man anschließend kaum gemeinsam zum Mittagessen gehen konnte.

Für eine längere Zeit wurde die Germanistik tatsächlich, pauschal gesagt, für die Wissenschaft vom deutschen Wesen gehalten. Nachdem das, auch durch meinen Münchner Vortrag, einmal energisch abgestreift war, hat sie von ihrer führenden Rolle in der Wissenschaftstheorie oder in den wissenschaftlichen Neuerungen zwangsläufig einiges eingebüßt, dafür aber auf ihrem Kerngebiet, der Philologie, sowohl an Präzision als auch an Methodenvielfalt einiges gewonnen.

Dabei ist immer zu bedenken, dass ich seit der Rückkehr aus Heidelberg nach Berlin ein wenig als Outsider galt, weil ich nicht mehr Germanist war, sondern zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft übergewechselt bin und dort eigentlich die Szondi-Tradition fortsetzte mit einer eigenwilligen, nicht mehr national orientierten Literaturwissenschaft. Dieses Fach, das in den 60er Jahren außer in Tübingen noch wenig entwickelt war, existierte in den 70er und 80er Jahren dann bereits an zwanzig deutschen Universitäten.

Ruf an eine verschriene Universität

Den Ruf nach Berlin hatte ich bereits vierzehn Tage nach meiner Habilitation, also sehr plötzlich. Ich machte gleich zu Anfang die Entdeckung, dass dort vielgestaltiger unterrichtet wurde als in Bonn. Auch kann ich mich erinnern, dass mir die Art und Weise, in der Hans-Egon Hass, der an meiner Berufung beteiligt war, seine Lehre betrieb – genauer: mit viel auswärtiger Beschäftigung auch in den Semestern unterbrach –, zu unmethodisch vorkam. Jedenfalls wählte ich eine eigene, stetige und auch theoretisch besser unterfangene Unterrichtsform; zu den Vorlesungen gehörten Literatur-Listen, Zitat-Listen und ein Arbeitsprogramm. Während der ersten beiden Semester hielt ich Vorlesungen zur Geschichte des Romans. – Unter den vielen Lehrveranstaltungen des Seminars bemerkte ich ziemlich bald auch etliche, vor allem von Mitarbeitern gehaltene, die mir reformbedürftig erschienen, doch wäre die Idee, über meine speziellen Themen hinaus, die in erster Linie die Erzählkunst betrafen, gleich das ganze Fach zu reformieren, eine allzu kühne Zumutung gewesen. So wollte ich anfangs nur einige Akzente setzen, dies aber deutlich.

In den USA angesehen, "weil sie nicht so typisch deutsch war"

Die Universität in West-Berlin war damals eine in Westdeutschland schlimm verschriene Universität, sie hatte jedenfalls den schlechtestmöglichen Ruf. Je weiter man von Berlin weg war – etwa in den USA –, desto besser wurde dieser Ruf. So hat Victor Lange auch Peter Szondi und mich gerne nach Princeton eingeladen, und wir waren als Berliner dort besonders gerne gesehen. Aber auch an anderen Orten in Amerika hatte die FU gerade einmal zwanzig Jahre nach dem Krieg einen guten Ruf, gerade deshalb, weil sie nicht so typisch deutsch war. In Westdeutschland stand sie demgegenüber durchweg in dem Ruf, ein Studentenchaos und ein Getümmel von Leuten zu sein, mit denen man besser nichts zu tun haben wollte. Deshalb war der Weg von Berlin nach Heidelberg ein Weg zurück in ein traditionelles Universitätssystem.

Es war damals nicht leicht, von Berlin an eine westdeutsche Universität zu gehen. Mein nächster Nachbar dort, Arthur Henkel, war ein Professor sehr alter Art, der auf Abstufungen bedacht war und sehr misstrauisch zusah, wie ich mit Assistenten und Studenten umging, wie ich auch hin und wieder an Studentenversammlungen teilnahm. Ich war keineswegs der Heidelberger Professor, der man dort zu sein hatte. So hatte meine Entscheidung, als Präsident nach Berlin zu gehen, auch den Grund, dass ich dieser Universität Ansehen verschaffen wollte. Es kam hinzu, dass das Ansehen der Berliner und der Hamburger Universität in Westdeutschland dadurch beschädigt war, dass sie seit 1969 von Assistenten regiert wurden, und auch das wollte ich, ohne irgendeine Überheblichkeit gegenüber Rolf Kreibich, einfach aus der Welt räumen.

In der Tat habe ich den fantastischen Beruf, in dem man unentfremdete Arbeit in einem solchen Ausmaß leisten kann. Ich finde überhaupt nur weniges in meinem Leben, das ich widerwillig getan hätte.

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