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Wissen: Der Strom, der aus der Kälte kam

Kühlt man Metalle auf sehr niedrige Temperaturen, so verschwindet ihr elektrischer Widerstand. Den Effekt nutzen etwa Mediziner

Der kälteste Ort der Welt lag vor 100 Jahren in einem Physiklabor der Universität Leiden. Heike Kamerlingh Onnes und seine drei Mitarbeiter waren damals die Einzigen, die das Edelgas Helium soweit abkühlen konnten, dass es flüssig wurde – auf etwa minus 269 Grad Celsius, vier Grad über dem absoluten Temperaturnullpunkt. Das öffnete ihnen eine Spielwiese für epochemachende Experimente. Im April 1911 beobachteten die Physiker ein Phänomen, das sie zunächst für einen Messfehler hielten: Der elektrische Widerstand des Metalls Quecksilber verschwand auf einen Schlag, wenn es auf weniger als rund 4,2 Grad über dem Temperaturnullpunkt abgekühlt wurde. Onnes konnte es kaum glauben, aber es war so. Die Leidener Physiker hatten die Supraleitung entdeckt. Danach fanden sie noch mehr Materialien, die bei solch tiefen Temperaturen Strom ohne Verluste leiteten, etwa Blei oder Zinn.

Unterhalb einer bestimmten Temperatur verbinden sich die Elektronen im Supraleiter offenbar zu einer Art Superelektron. Dieses erstreckt sich über den gesamten Supraleiter. Ein einzelnes Elektron kann nicht aus dem Kollektiv ausbrechen – es verliert quasi seine Individualität. Es befindet sich nicht mehr an einem bestimmten Ort und kann daher auch nicht an einer bestimmten Stelle des Supraleiters mit einer Unregelmäßigkeit im Kristallgitter zusammenstoßen. Solche Stöße sind die Ursache elektrischen Widerstandes – ohne sie erfolgt der Stromtransport verlustfrei.

Onnes träumte nach seiner Entdeckung von supraleitenden Kabeln, die Strom ohne Verluste über weite Strecken transportieren. Die lassen allerdings noch immer auf sich warten. Zwar gab es in den letzten Jahren Testprojekte, etwa in Kopenhagen, bei denen unterirdische Kabel aus Supraleitern Strom über einige Kilometer zu Verbrauchern leiteten. Doch supraleitende Stromtrassen, die Solarstrom aus Nordafrika nach Europa bringen, bleiben eine Zukunftsvision. Supraleitende Kabel lohnen sich dort, wo auf wenig Platz möglichst viel Strom transportiert werden muss, etwa in den Zentren von Metropolen. Denn sie leiten bei gleicher Querschnittsfläche etwa fünfmal so viel Strom wie herkömmliche Kabel. In Amsterdam soll demnächst ein etwa sechs Kilometer langes supraleitendes Kabel für den Dauereinsatz installiert werden.

Längst etabliert haben sich Supraleiter in Medizin und Forschung. In beiden Fällen braucht man sie, um besonders starke Magnetfelder zu erzeugen. Ein Draht aus einem metallischen Supraleiter wird zu einer Spule aufgewickelt und mit flüssigem Helium abgekühlt. Durch die supraleitende Spule fließender Strom verliert keine Energie und erzeugt daher ein Magnetfeld, das einige Milliarden Mal stärker ist als das der Erde. Derartige Magnetfelder halten im weltweit größten Teilchenbeschleuniger „Large Hadron Collider“ am europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf Protonen auf ihrer Kreisbahn. Auch für die Magnetresonanztomografie werden supraleitende Magnetspulen eingesetzt, da die Bildqualität mit der Stärke des Magnetfeldes zunimmt.

Doch in den Alltag sind die Supraleiter noch nicht vorgedrungen. Das könnte sich nach Ansicht von Experten ändern, wenn es Materialien gäbe, die bei Raumtemperatur supraleitend sind. Dies galt bis in die 1980er Jahre als undenkbar. Doch 1987 entdeckten die Physiker Karl Müller und Johannes Bednorz eine Keramik, die bei einer deutlich höheren Temperatur noch supraleitend war. In der Folgezeit wurden Keramiken entwickelt, die unterhalb von minus 150 Grad Celsius bereits supraleitend sind. Das ist zwar immer noch sehr kalt. Man braucht dafür aber kein Flüssighelium, sondern kann mit einfacher herstellbarem Flüssigstickstoff arbeiten. Das supraleitende Testkabel für den Stromtransport in Kopenhagen wurde mit flüssigem Stickstoff gekühlt.

Doch Raumtemperatur-Supraleitung ist vielleicht gar nicht nötig. „Die Kühlung mit Flüssigstickstoff ist schon heute weit verbreitet für unterschiedlichste Zwecke. Kryokühlung ist kein fundamentales Hindernis für die Anwendung von Supraleitern“, sagt Tabea Arndt von Conectus, einem Firmenkonsortium, das die kommerzielle Nutzung von Supraleitern vorantreiben will. Wichtige künftige, und durchaus schon realisierbare Anwendungen sieht sie in verlustarmen Generatoren. Aber auch in Computern und Elektronik kann die Supraleitung den Vorteil, keine Abwärme zu erzeugen, ausspielen und damit die Hitzeprobleme der heutigen Rechner lösen. Christian Meier

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