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Wissen: Des Kaisers ganzes Leben Dem britischen Historiker John C. G. Roehl zum 75.

Es ist schon eine eigentümliche Leistung, einer historischen Figur, die man so gar nicht leiden kann, sein Lebenswerk zu widmen. Der englische Historiker John C.

Es ist schon eine eigentümliche Leistung, einer historischen Figur, die man so gar nicht leiden kann, sein Lebenswerk zu widmen. Der englische Historiker John C. G. Röhl, geboren 1938 in London als Sohn eines deutschen Vaters und einer englischen Mutter, hat ebendies getan. Seit Jahrzehnten forscht er über Kaiser Wilhelm II., ihn hat er in einer dreibändigen, insgesamt 4000 Seiten umfassenden Biografie unter dem schlichten Titel „Wilhelm II.“ regelrecht seziert. Röhl hat den Brief- und Tagebuchnachlässen von Korrespondenzpartnern des Kaisers noch die kleinsten Kleinigkeiten entrissen. Dank der drei zwischen 1993 und 2008 bei C. H. Beck erschienenen Bände ist nunmehr bekannt, was irgend sich über Wilhelm II. wissen lässt.

Wenn man es denn immer wissen will. 4000 Seiten über eine so unangenehme Person, wie sie Röhl zeichnet, sind für jeden Leser eine Herausforderung. Und womöglich wird es keinen zweiten Historiker geben, der sich noch einmal derart detailversessen an Wilhelms Lebenslauf heranwagt. So wird vieles von dem, was Röhl teils in nie zuvor gesichteten Nachlässen gefunden hat, fortan als Tatsache zitiert werden.

Ob er denn auch „sympathische Züge“ an Wilhelm entdeckt habe, wurde Röhl einmal gefragt. „Das vielleicht nicht“, antwortete Röhl, „aber Mitleid kann man mit ihm haben, für die frühen Jahre.“ Für die kalte, herzlose Erziehung, die seine Mutter dem eher verachteten denn geliebten Kind antun ließ, das mit verkrüppeltem Arm auf die Welt gekommen war. Immerhin fügte Röhl an, Wilhelm schneide „im Vergleich zu anderen Monarchen in Europa nicht schlecht ab“.

Es wäre besser gewesen, Röhl hätte sich bei der Abfassung seiner Biografie gelegentlich von diesem relativierenden Urteil leiten lassen. Dann wären Wilhelms Eskapaden, die unter dem gängigen Wort vom „persönlichen Regiment“ des Kaisers stets eher verharmlost werden, deutlicher geworden als das, was sie – neben allem fürchterlichen und folgenreichen Dilettantismus – eben auch waren: ein beständiges Aufbegehren gegen die routinierten Intrigen und falschen Schmeicheleien, mit denen ihn Profis wie die Reichskanzler Bülow und Bethmann-Hollweg und macht- und kriegshungrige Militärs zur Marionette ihrer eigenen Pläne zu machen suchten.

Das genau meint das Wort vom „Schattenkaiser“, das der Gesellschaftshistoriker Hans-Ulrich Wehler geprägt hat und das von der historischen Forschung überwiegend geteilt wird. Röhl hingegen hält eisern an der entscheidenden Rolle Wilhelms in der deutschen Politik, zumal der Außenpolitik fest. Doch darf man des Kaisers großsprecherische Worte an den britischen König Edward VII., seinen Onkel, wirklich für bare Münze nehmen? Demnach war Wilhelm „der einzige Lenker & Herr der deutschen Außenpolitik & die Regierung & das Land müssen mir folgen“.

Es war wohl doch etwas anders, als Wilhelm glaubte und hoffte, zumal in der Julikrise 1914, als die europäischen Großmächte in den Krieg schlitterten. Die führenden Politiker des Reichs informierten ihren wieder einmal auf Reisen befindlichen Kaiser gezielt falsch, um ihn zum Krieg zu treiben. Das belegt denn auch Röhl in der ihm eigenen Akribie. Der in Cambridge lehrende Preußenkenner Christopher Clark, dessen Wilhelm-Biografie mit einem Zehntel des Röhl’schen Materialgebirges auskommt, betont das „grundlegende Versagen des Kaisers, sich als echte Führungspersönlichkeit auszuzeichnen“. Vielmehr beschleunigte er „dramatisch den Legitimitätsverlust der Monarchie“.

Kaiser Wilhelm II., der seine eigene, 30 Jahre währende Regentschaft nochmals um 23 von Röhl nachgezeichnete Jahre überlebte, wird wohl kein zweites Mal derart aufmerksam erforscht werden. Doch die nach ihm benannte Epoche des zweiten deutschen Kaiserreichs bedarf weiterer Analysen.

Röhl verdankt die Geschichtswissenschaft, dass das Bild dieses Monarchen deutlicher vor uns steht als je zuvor. Und auch, dass nach Jahrzehnten wohlfeiler Wilhelm-Verachtung nunmehr zutrifft, was Schiller seinem Wallenstein vorausschickt: „Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt,/ Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.“ Es schwankt, im Falle Wilhelms, zwischen Regent und Schattenkaiser. John C. G. Röhl, der heute 75 Jahre alt wird, resümierte jedenfalls nach dem Erscheinen des dritten Bandes erleichtert, er glaube, „die Anstrengung hat sich gelohnt“. Bernhard Schulz

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