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Schwerer Start. Jedes 20. Baby muss auf die Intensivstation.

© Sarah Maxey Photography

Diagnose: Ein Gentest für schwerkranke Säuglinge

Forscher können das Blut von Babys in zwei Tagen auf knapp 600 seltene Erbkrankheiten untersuchen. Für einige gibt es Therapien, die das Leben des Kindes etwas leichter und länger machen. In anderen Fällen gibt die Diagnose den Eltern Zeit, sich in Ruhe zu verabschieden.

Bereits eine Stunde nachdem das kleine Mädchen per Kaiserschnitt auf die Welt gekommen war, wurde es von einem Krampf geschüttelt. Es war der erste von vielen epileptischen Anfällen. Egal was ihre Ärzte versuchten, nichts half. Sie aß kaum etwas und musste künstlich beatmet werden. Mit fünf Wochen wurde sie auf die Intensivstation des Children’s Mercy Krankenhauses in Kansas City verlegt. Dort entschieden sich die Eltern schließlich dazu, die Geräte abzustellen. Das Mädchen starb, ohne dass die Eltern eine Antwort auf die quälende Frage bekommen hatten, woran ihr Kind litt.

Dass diese Ungewissheit nun ein Ende hat, verdanken die Eltern Stephen Kingsmore und seinem Team im Children’s Mercy Krankenhaus. Die Forscher haben einen neuen Test entwickelt, mit dem sie das gesamte Erbgut eines Säuglings innerhalb von 50 Stunden auf knapp 600 bekannte Erbleiden untersuchen können. Wie sie im Fachjournal „Science Translational Medicine“ berichten, soll der Test bald alle 3500 Erbkrankheiten aufspüren, von denen bekannt ist, welches einzelne Gen sie verursacht.

Untersuchungen des ganzen Erbguts waren bisher zu teuer, zu langsam und zu komplex für den Alltag in der Klinik. Daher werden bislang bei Neugeborenen nur einzelne Gene sequenziert. Doch welches soll ein Arzt auswählen? Eine Veränderung an einem Gen kann bei unterschiedlichen Kindern unterschiedliche Symptome verursachen. Umgekehrt können sehr ähnliche Krankheitsbilder hunderte verschiedene genetische Ursachen haben. Viele dieser Erbleiden sind so selten, dass die meisten Ärzte noch nie von ihnen gehört haben. Und selbst wenn dieses Ratespiel erfolgreich ist, dauert es Wochen, bis Ärzte und Eltern das Ergebnis in der Hand halten. Für den Säugling ist es dann oft zu spät. Viele Neugeborene sterben auf der Intensivstation, ohne dass ihr Erbleiden diagnostiziert oder gezielt behandelt wurde. Mit den alten Methoden wäre es den Eltern des Mädchens genauso ergangen. Denn die Genmutation, die sie todkrank machte, wurde erst zwei Mal auf der Welt beschrieben.

Für den Kingsmore-Test reichen einige Tropfen Blut. Bevor die Blutprobe ins Labor geschickt wird, wählt der Arzt am Computer mit einigen Klicks die Symptome des Kindes aus. Eine spezielle Software erstellt daraus eine Liste an Genen, die dafür infrage kommen. Sobald das komplette Erbgut des Kindes mit den neuesten Sequenziermaschinen ermittelt ist, sucht die Software in dem Datenberg dann nur in diesen Regionen des Erbgutes nach potenziell krank machenden Veränderungen in einzelnen Genen. So wird die Analyse nicht nur schneller und effektiver. Es werden auch zufällige Befunde vermieden (wie der Hinweis darauf, dass ein Baby die Veranlagung hat, früh an Alzheimer zu erkranken), die für das Neugeborene und seine Behandlung keine Rolle spielen und ethisch sehr umstritten sind.

Kingsmore und seine Kollegen konnten in einem ersten Testlauf bei vier von fünf Kindern eine sichere Diagnose stellen. Ab Ende des Jahres wollen sie ihn Eltern für 13 500 Dollar (knapp 10 500 Euro) als Routinetest für Babys auf der Intensivstation anbieten, ab Anfang nächsten Jahres können ihnen andere Krankenhäuser Blutproben ihrer kleinen Patienten zur Analyse schicken. Einige große Kliniken in den USA überlegen bereits, ob sie selbst die Technik anschaffen sollen. Ob und wann sie jedoch in Europa verfügbar sein wird, ist noch unklar.

Der Test ist nicht perfekt, geben die Forscher zu. Krankheiten, bei denen ein Gen oder Genteile zu oft kopiert wurden, kann die Technik schlecht aufspüren. Für etwa 4000 Einzel-Gen-Erkrankungen ist das schuldige Gen noch gar nicht gefunden. Und selbst wenn der Test eine sichere Diagnose ausspuckt: Nur für etwa 500 dieser Erbleiden gibt es eine Behandlung, durch die das Leben des Kindes zumindest etwas leichter und länger wird. Heilen kann man nur wenige.

Dem kleinen Mädchen mit den epileptischen Anfällen hätte kein Arzt helfen können. Den Eltern blieb nur eine genetische Beratung für oder gegen weitere Kinder. Trotzdem hätten sie das Ergebnis gern vor dem Tod der Tochter gehabt. Die endlosen Tests hätten früher aufhören können. Statt ihr Baby mit Geräten und Medikamenten zu traktieren, hätten sie in Ruhe Abschied genommen. „Die größte Überraschung für mich war, wie dankbar die Familien für jegliche Diagnose sind“, sagt Kingsmore. Jana Schlütter

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