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Lemmingauge, sei wachsam. Dicrostonyx ist Vegetarier. Hermeline, Schnee-Eulen und Raubmöwen sind es allerdings nicht.

©  Johannes Lang

"Wie die Lemminge": Die angeblichen zoologischen Massenselbstmörder und der Klimawandel

Die Nager sind Legende. Doch um sie und andere Tiere im Ökosystem zu dezimieren, ist gar kein kollektives Springen von der Klippe nötig.

Zu Zehntausenden stürzen sie sich über steile Klippen ins Meer. Das ist das Bild, das viele bis heute von den hoch im Norden lebenden – und sterbenden – Nagern haben.

„Wie die Lemminge“ gehört noch immer zu den geflügelten Worten und steht für kollektiven, fatalen Unsinn.

Das Leben und Sterben der Lemminge

Benoît Sittler von der Universität Freiburg und sein Team haben nachgewiesen, dass die Realität des Lebens und Sterbens von Lemmingen - zumindest denen, die er untersucht hat - anders aussieht, und die Ursachen der tatsächlich realen Populationszyklen ermittelt.

Doch das Thema Lemminge ist damit alles andere als abgeschlossen – was unter anderem seine Ursache im Klimawandel hat. Sittler ging 1988 erstmals auf Grönlandexkursion.

Schmelzwasser auf Grönlandischem Gletscher. Die dunklen Wasserflächen verstärken die Erwärmung der Arktis, weil sie mehr Sonnenlicht absorbieren.
Schmelzwasser auf Grönlandischem Gletscher. Die dunklen Wasserflächen verstärken die Erwärmung der Arktis, weil sie mehr Sonnenlicht absorbieren.

© picture alliance / dpa

Er wollte dem Geheimnis nicht der vermeintlichen Massentode, sondern der Massenvermehrungen von Lemmingen auf die Spur kommen. „Damals dachte von uns niemand an den Klimawandel, der hat uns im Laufe unserer Forschungen eingeholt“, sagt der Diplom-Geograf.

Sein Untersuchungsgebiet wählte er auf der Insel Traill im Nordost-Grönland-Nationalpark, dem mit 956.700 Quadratkilometern größten Nationalpark der Welt. Winter dauern im Karupelv-Tal neun Monate.

Stürme wüten mit mehr als 250 Stundenkilometern. Selbst im arktischen Sommer klettern Temperaturen selten über zehn Grad. Das reicht aber, um Küstenbereiche schneefrei zu tauen.

Räuber, Beute, Schnee und Sex

Das Ökosystem ist relativ überschaubar, Tierarten gibt es vergleichsweise wenige. Laut Sittler eignen sich solche Verhältnisse aber bestens, um neue Einblicke in ökologische Zusammenhänge zu erlangen. Hauptdarsteller im Projekt ist der zehn bis 15 Zentimeter lange Grönländische Halsbandlemming, Dicrostonyx groenlandicus.

Diese arktische Wühlmaus ganz real weltweit der einzige Nager, der weißes Winterfell trägt.

Die Veränderungen in der Lemming-Population ermittelt das Team seit 1988 jährlich anhand der Winternester auf rund 1500 Hektar. „Neben der Populationsdynamik der Lemminge haben wir ihre Fressfeinde erfasst“, erklärt der Arktisforscher.

Aus einem Lemming können sehr schnell sehr viele werden - bis zu fünf Mal im Jahr können sie Nachwuchs produzieren, wenn die Bedingungen stimmen.
Aus einem Lemming können sehr schnell sehr viele werden - bis zu fünf Mal im Jahr können sie Nachwuchs produzieren, wenn die Bedingungen stimmen.

© Karupelv Valley Project

Lemminge sind Beute für Hermeline, Polarfüchse, Schnee-Eulen und Falkenraubmöwen. „Die Zahl der Hermeline kartieren wir mit den Winternestern der Lemminge, da Hermeline diese nutzen.“

Bei den Schnee-Eulen und Falkenraubmöwen zählen sie die Brutpaare, Polarfüchse würden über besetzte Baue erfasst. Auch den Nahrungsmix der Beutegreifer analysieren die Forscher über Kot und Gewölle, um auf die Bedeutung von Lemmingen für die einzelnen Arten zu schließen.

Es stellte sich, wenig überraschend, heraus, dass zumindest ein Teil der Legende stimmte: Auf Unmengen von Lemmingen folgte oft ein massenweiser Tod. Und umgekehrt. Die Dichte der Tiere könne sich von einem Jahr auf das andere von weniger als einem Lemming pro zehn Hektar auf bis über zehn Lemminge pro Hektar erhöhen, also um mehr als das 100-Fache.

Komm unter meine Schneedecke

Massenvermehrungen geschähen im Schutz der Schneedecke: „Unter optimalen Bedingungen, also langer Schneebedeckung, können Lemminge vier- oder fünfmal in einem Winter werfen, aber nur, wenn keine Hermeline da sind“, sagt Sittler.

Nach der Schneeschmelze hilft aber auch die Ruhe vor dem Hermelin nicht mehr weiter. Im Juni oder Juli seien Lemminge ihren Fressfeinden für zwei bis drei Monate weitgehend schutzlos ausgeliefert.

Jetzt bedienen sich Raubmöwen sowie Schnee-Eulen, die bei einer hohen Lemmingpopulation zahlreich brüten. Auch für Polarfüchse seien sie leichte Beute. „Das Zusammenspiel dieses Drucks verschiedener Fressfeinde trägt zum Zusammenbruch der Lemmingpopulation im gleichen Sommer bei“, benennt Sittler die Ursachen dieser Populationsdynamik.

Doch die reale, aber eben eher zoologische Klippe, über die diese Lemminge massenhaft in den Tod stürzen, besteht nicht nur aus den Raubtieren des Sommers: „Wenn sich die zuvor wenigen Hermeline fortpflanzen konnten, ist es im nächsten Winter für die Lemminge schlecht bestellt“, sagt Sittler, „dann jagen Hermeline im Schutz der Schneedecke und können in zwei oder drei Jahren die Lemmingpopulation derart dezimieren, dass die Hermeline selbst verhungern oder auswandern.“

Hungrige Hermeline

Ein Hermelin benötige täglich zwei Lemminge. Bei Lemmingdichten von unter einem Tier pro zehn Hektar beginnt die kritische Phase für Hermeline. Polarfüchse haben es einfacher. Sie weichen auf Schneehasen, verendete Moschusochsen oder Robbenreste aus.

Arktische Gestalten: Nein, nicht Harry Potter, sondern Benoît Sittler mit einer Schnee-Eule.
Arktische Gestalten: Nein, nicht Harry Potter, sondern Benoît Sittler mit einer Schnee-Eule.

©  Karupelv Valley Project

In den ersten zwölf Jahren konnten Sittler und sein wechselndes Team diese Massenvermehrungen im Turnus von vier bis fünf Jahren beobachten. Als wesentliche Ursache für den anhaltenden Zusammenbruch der Populationen beschrieben sie die verzögerte Vermehrung der Hermeline.

Damit konnten die Wissenschaftler die Hypothese, dass spezialisierte Räuber diese Zyklen bewirken, untermauern.

Spätestens um den Jahrtausendwechsel hat die Erderwärmung das Forscherteam eingeholt. Und die Forschungen. Denn mehr oder weniger abrupt blieben Massenvermehrungen aus.

Massiv beeinflusstes Ökosystem

Die Beobachtungen der letzten 18 Jahre deuten laut Sittler auf Änderungen hin, die mit dem Klimawandel in Verbindung stehen könnten. Die Folgen für das Ökosystem sind offenbar gravierend: „In den letzten zehn Jahren haben wir ein einziges Brutpaar von Schnee-Eulen registriert, im Zeitraum von 1988 bis 1999 waren es jährlich rund 50 Brutpaare.“

Schnee-Eulen leben nomadisch. Sie brüten dort, wo sie ausreichend Lemminge finden. Anders Falkenraubmöwen. Sie bleiben ihrem Brutplatz zeitlebens treu, ganz gleich ob es Lemminge gibt oder nicht.

Auch das hat Konsequenzen: „Im Untersuchungsgebiet konnten wir in den letzten zehn Jahren jeweils bis zu 15 Brutpaare erfassen, in diesem Zeitraum haben wir aber weniger als zehn flügge gewordene Jungvögel gezählt“, berichtet Sittler.

Sollte sich dieser Trend fortsetzen, werde „auch die Falkenraubmöwe zu den Verlierern des Klimawandels zählen und aussterben“, sagt der Biologe Johannes Lang, der elf Mal zum Expeditionsteam gehörte.

Die Realität des Klimawandels, der sich in Grönland schneller und sichtbarer abspielt als anderswo und dessen Folgen auf das Ökosystem nur durch Langzeitbeobachtungen wie diese dokumentiert werden können, steht nun im Fokus des Projektes. Klimadaten der arktischen Gebiete belegen einen eindeutigen Erwärmungstrend, am ausgeprägtesten für Spitzbergen mit mehr als drei Grad in den letzten 50 Jahren.

Länger grünes Grönland

Im Nordosten Grönlands, also auch im Karupelv-Tal, zeigt sich dies in einer früheren Schneeschmelze im Juni sowie verspätetem Herbstschnee. Früher fiel der erste Schnee im September, jetzt oft erst Ende Oktober oder im November. Und im Sommer können über Grönland nun „Hitzeglocken“ mit mehr als 15 Grad liegen.

Eisbären, auf der Suche nach Fressbarem, nähern sich dem Forschercamp, das mit einem 8000-Volt-Zaun geschützt ist.
Eisbären, auf der Suche nach Fressbarem, nähern sich dem Forschercamp, das mit einem 8000-Volt-Zaun geschützt ist.

© Antoine Rezer/Karupelv Valley Project

Die Forscher werden mit den Auswirkungen konfrontiert. Blutdurstige Mückenschwärme 24 Stunden am Tag gehören dazu. Hungrige Jäger auch. Begegnungen mit Eisbären an Land nähmen seit rund 15 Jahren stark zu, erzählt Sittler.

Früher hätten sich die Bären selbst im Hochsommer auf dem breiten Packeisgürtel rund um Nordost-Grönland aufgehalten. Doch dieser Eisgürtel ist inzwischen stark geschrumpft. „Ab Juni können wir kaum noch Treibeis registrieren.“ Es bilde aber die Grundlage der Nahrungssuche für die Bären. „Von hier aus jagen sie Robben, und ohne Eis sind sie gezwungen, an Land zu jagen, hier finden sie aber kaum Ersatzbeute.“

Ihr Lager müssen die Forscher inzwischen mit Elektrozäunen schützen, an denen 8000 Volt Spannung anliegen. „Wir verfügen zudem über großkalibrige Gewehre“, sagt Sittler. In der Regel ließen sich die Bären aber mit Leuchtraketen vertreiben.

Schmelzbäche und Sponsoren

All diese im Vergleich zu anderen Teilen der Welt beschleunigten Veränderungen machen Sittler Sorgen. Trotzdem liebt er seinen Job nach wie vor: „Die Tatsache, dass wir uns mehrere Wochen lang in der Wildnis weit weg von der Zivilisation aufhalten, um uns herum nur natürliche Geräusche wie Stimmen der Vögel oder Rauschen der Schmelzbäche, fasziniert mich.“

Doch derart romantische Momente sind nur ein kleiner Teil seines Forscheralltags: „Ich bin rund um das Jahr mit Vorbereitungen, Auswertungen, Tagungen eingespannt.“ Dazu komme die Kontaktpflege mit Sponsoren – und oft auch die Unsicherheit, „ob wir das Projekt am Leben halten können“.

Bis jetzt sagt er, sei es dem Engagement seiner Mitstreiter und auch der „Treue einiger Sponsoren“ zu verdanken, dass das Projekt immer weitergegangen sei. Wer das Projekt privat unterstützen möchte, kann sich beispielsweise für 13 Euro pro Brief „Polarpost“ aus Grönland senden lassen (karupelv-valley-project.de/deutsch/polarpost/).

Benoit Sittler, Johannes Lang und ein Polarfuchs.
Benoit Sittler, Johannes Lang und ein Polarfuchs.

© Karupelv Valley Project

Bleibt noch die Frage, woher der Mythos des Massenselbstmords per Sprung von der Klippe kommt? Tatsächlich gibt es Lemming-Arten, die, wenn die Populationsdichte hoch ist, in Massen auf Wanderschaft gehen und dabei auch Gewässer durchschwimmen – oder dies zumindest versuchen. Bei entsprechend hohem ökologischen Druck sind solche und andere auch risikoreichen Strategien keine Seltenheit im Tierreich.

Die einzige je gefilmte Szene, die die Tiere massenhaft ins Wasser springend zeigt, stammt aus der Disney-Naturdokumentation „White Wilderness“ von 1958. Und längst ist bekannt, dass die Macher des Films dabei stark nachgeholfen haben.

Roland Schulz

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