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Die Väter der Gedanken: Doktorarbeiten in Zeiten des Plagiats

Sie suchen nach Erkenntnis anstatt Titel zu jagen: Wie ein Berliner Professor und sein Doktorand die Wissenschaft verteidigen. Sie sind überzeugt: "Wenn einer in die Wissenschaft geht, wird ein Plagiat früher oder später gefunden."

Borgolte ist nicht alle Professoren. Nie wollte er für alle sprechen. Aber weil zur Zeit über allen ein Verdacht liegt, ist er bereit, über sich selbst zu sprechen: Über Professor Michael Borgolte, Jahrgang 1948, Mediävist an der Humboldt-Universität Berlin, Habilitation mit jungenhaften 33 Jahren, seitdem Betreuer von Doktoranden.

Und weil zur Zeit auch Doktoranden unter Verdacht stehen, spricht auch Marcel Müllerburg, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, 31, Doktorand der Mittelaltergeschichte bei Professor Borgolte.

Seit der wissenschaftlichen Entzauberung von Guttenberg, Koch-Mehrin, Chatzimarkarkis und Althusmann, seit der Gründung von Vroniplag, seitdem Einzelfälle den Charakter einer Epidemie annehmen, stellt sich die Frage, wo das System schwächelt und wo der Mensch.

Das deutsche System ist so angelegt, dass jene einzigartige, komplexe, jahrelange Beziehung zwischen Doktoreltern und Doktorand den Ausschlag gibt für das Gelingen einer Arbeit. Hierin liegt alles geborgen: Erfolg und Ansehen, Wertschätzung, Demütigung, Selbsterkenntnis, Bewertung und Beförderung, Faszination, Täuschung und Enttäuschung. Man muss also diese Beziehung ergründen, in der offenbar der Maßstab liegt für die gesamte deutsche Wissenschaft. „Kommen Sie in mein Kolloquium. Reden Sie mit meinen Doktoranden“, hatte Borgolte gesagt.

In einem Zweckbau in der Friedrichstraße, im vierten Stock, den Gang längs zur Geschichte des Mittelalters, hinter der unvermeidlichen Pinnwand, bittet Borgolte in sein bücherlastiges Büro.

„Ein Professor ist jemand, der öffentlich lernt“, sagt er. Auch von seinen Schülern. Aus über dreißig Jahren Erfahrung destillierte sich sein Ideal: „Erstens muss man versuchen, die besten Leute zu finden. Dabei geht es immer um die Wissenschaft, nie um die Person.“ Zweitens müsse man alles tun, damit sich diese Leute gemäß ihren persönlichen Fähigkeiten entfalten können.

Schon hier ist klar, dass man die Person vom Wissenschaftler kaum trennen kann. Man arbeitet ja nicht als Intellektueller, sondern man ist einer.

Bei Karl-Theodor zu Guttenberg war am Ende nicht mehr klar, wer eigentlich wen promovieren sollte. Beförderte der Baron den Doktorvater in eine andere gesellschaftliche Schicht oder der Wissenschaftler den Baron in die Wissensgesellschaft? Borgolte las von Hausmusik bei Doktorvater Häberle, „Das geht zu weit.“ Jüngerschaft dürfe nicht vorkommen. In keine Richtung. „Sonst entstehen Abhängigkeiten, die für beide nicht gut sind.“

Borgolte hat eine Taktik: Schüler erst duzen, wenn sie bei ihm keine Prüfungen mehr machen. Und bis auf ein vorweihnachtliches Essen bei ihm zu Hause gibt es keine privaten Unternehmungen. Trotzdem muss Borgolte von seinen Doktoranden immer „die Gesamtsituation verstehen“. Nur dann kann er helfen, dass die Arbeit gelingt. Häufig erzählen sie ihm ungefragt von den Wechseln der Liebe, weil sie glauben, sich rechtfertigen zu müssen. Ihm ist das peinlich. Stattdessen will er wissen, ob sie eine Finanzierung haben für die Jahre der Arbeit. „Da frage ich auch: Verdient die Frau?“

Borgolte treibt um, wie ein Leben gelingt. Wie Menschen das Beste aus sich herausholen. Er kennt seine Doktoranden meist aus Seminaren oder Assistenzstellen. Drei seiner Schüler sind jetzt Ordinarien. Einer seiner ersten Doktoranden, Frank Rexroth, wurde Koryphäe seines Fachs. Und sie haben sich noch immer etwas zu sagen „im Grenzbereich zwischen Wissenschaft und Lebensbewältigung.“

In diesem Grenzbereich gibt es immer Ermessensfragen. Wann fördert man bloß die Persönlichkeit auf Kosten der Wissenschaft? Wie muss man andererseits die Person fördern, damit die Wissenschaft profitiert?

„Wenn sie sich verrennen, brauchen Doktoranden Korrekturen. Ansonsten aber: laufen lassen“, sagt Borgolte. Einmal ist ihm jemand auf diese Weise entglitten. Der wurde einfach nicht fertig. „Der war klug und wusste das.“ Wenn er so jemand Eitlen unter Druck setzt, dachte Borgolte, blockiert der. Nachher stellte er fest, dass er nebenbei eine Karriere als Pressesprecher einer Partei gemacht hatte. Er hätte glatt zwei Jahre früher fertig werden können. Aber Borgolte glaubt bis heute: Im Sinne der Wissenschaft musste er ihm Zeit lassen. „Alles andere hätte die Persönlichkeit erstickt, auf die es ankommt.“ Heute ist der Schüler Professor in Essen.

Einmal hat ihn eine Promovendin aus Brasilien über das Internet als Doktorvater ausgesucht. Er war geschmeichelt, erst im Nachhinein gefiel ihm ihre antiquierte Vorstellung von Wissenschaft nicht mehr, ihre Herangehensweise fand er mystisch. Da aber hatte sich schon persönliche Verantwortung entwickelt: Er hatte das Thema akzeptiert. Sie war für drei Jahre nach Deutschland gekommen, nie hätte sie das Stipendium zurückzahlen können. Er musste da durch. Am Ende war die Arbeit in Ordnung, wenn auch nicht auf dem Niveau, das seine Schüler sonst erreichen. Und doch: Ihre Konsequenz und seine Verantwortung haben sie, und vielleicht auch die Mediävistik, am Ende weitergebracht. Sie hat heute als Professorin in Brasilien eine eigene Mittelalterforschung aufgebaut.

Die Doktorarbeit ist ein Mittel zum Zweck. Aber zu welchem? Doktoranden werden ja später nicht alle Wissenschaftler. „Es geht darum, sein geistiges Vermögen auszuprobieren“, sagt Borgolte. „Promotion ist ein Wert an sich.“ Und: „Es ist mir unbegreiflich, wie ein Doktorvater nicht merkt, wenn jemand abschreibt.“ Wenn der Professor selbst auf dem Stand der Forschung ist und genau liest, würde er Brüche im Stil wahrnehmen.

Borgolte ist nicht alle Professoren. In Deutschland promovieren jedes Jahr 25 000 Menschen. Sicher gebe es „Doktormühlen“, bei denen die Doktorväter die Arbeiten gar nicht richtig lesen. Wo Assistenten die Gutachten schreiben. Wo nur der Titel zählt. Zum Leidwesen der redlichen Mehrheit.

„Die meisten sind selbstständige Arbeiter“, sagt Marcel Müllerburg, der Doktorand. „Borgolte zieht die an.“ Zudem sei er berühmt für harsche Kritik. Einen Sammelbandbeitrag von ihm machte Borgolte einmal völlig zunichte: Kein roter Faden, sprachlich unmöglich. „Wunde Stellen finden kann er gut“, sagt Müllerburg und lächelt. Er kann das respektieren.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wie die Doktoranden sich gegenseitig kontrollieren.

Müllerburg, 31, gefiel Borgoltes Art, Fragen zu stellen. Eigentlich sind die Protagonisten des Mittelalters schon 1000 Jahre tot, aber Borgolte finde Aspekte, die in der Gegenwart weiterhelfen. Mittelaltergeschichte sei dann im Grunde eine Zukunftswissenschaft. Es war auch Sympathie dabei. „Wahrscheinlich werde über die Jahre ich ihm ähnlicher als er mir.“

Müllerburg, Inhaber einer Koordinationsstelle am Lehrstuhl, glaubt, dass die aktuelle Bausch-und-Bogen-Kritik an den Universitäten stark von Ressentiments getrieben sei. Leute, die sich noch nie vorstellen konnten, dass Doktoranden drei Jahre und länger am Stück denken, machen jetzt ihren Zweifeln Luft.

Die Universität Wien hat 2008 für dieses Problem eine Softwarelösung gefunden. Dort werden jährlich bis zu 7000 Abschlussarbeiten innerhalb von 24 Stunden nach der Abgabe routinemäßig und vor der Beurteilung durch die Professoren durch die Programme „Ephorus“ und „Urkund“ gejagt. Seit Einführung wiesen die Maschinen vier Plagiatsfälle und 100 Fälle gravierender Zitierfehler aus. Können Maschinen etwas, was Menschen nicht können?

Plagiate, glaubt Müllerburg, würden ohnehin entdeckt in seinem Fach, denn man müsse ja davon ausgehen, dass andere die Arbeit lesen. Man schreibt sie als Stimme im historischen Diskurs. Er selbst schreibt über jüdisch-christliche Religionsdialoge im 12. Jahrhundert. Die Literatur ist lateinisch, der Christ gewinnt immer.

Seit zwei Jahren muss er das Thema im montäglichen Kolloquium verteidigen, Teilnahme ist Pflicht. Es ist die intellektuelle Bereicherung und zugleich die wirkungsvollste Kontrollinstanz des Professors. Man werde auseinandergenommen, muss sich verteidigen und seine Argumente in Beziehung setzen.

Das Kolloquium also, wie jeden Montagabend 18 Uhr c.t., Raum 5008. Wissenschaftliche Qualitätskontrolle live. Die Doktoranden und Borgolte sitzen auf verschossenen Polstern. Ein Gastredner spricht über „Zuschreibung und Inszenierung von Autorität im gelehrten Feld um 1500.“ Offenbar gab es damals schon Menschen, die sich selbst Titel verliehen. Und es gab welche, die ihnen auf die Schliche kamen.

Die Doktoranden löchern den  Redner. Sie wenden ein. Der formuliert um. Präzisiert. Betont. Grenzt ab. Definiert. Klärt. Drückt neu aus. Räumt ein. Verteidigt. Zehn Doktoranden und ein Vortragender spreizen sich in Fragen und Antworten. Die einsame Tätigkeit eines Wissenschaftlers findet hier ihre Bühne. Wer dies überstanden hat, braucht nicht mehr abschreiben, der kann frei formulieren.

„Die animieren und kontrollieren sich gegenseitig“, hatte Borgolte gesagt. „Das funktioniert exzellent.“ „Das Kolloquium ist ein moralisches Kollektiv, das sozial funktioniert“, sagt eine. Sie lesen untereinander Manuskripte. So entsteht Binnenkontrolle von einer Leistungsfähigkeit, die keine Maschine leisten könnte. Schummeln wäre tödlich. „Es sind die späteren Kollegen, die einen erwischen.“

„Wenn einer später in die Wissenschaft geht, wird ein Plagiat früher oder später gefunden“, sagt ein anderer. Tatsächlich werden zur Zeit ja Politiker enttarnt, keine Wissenschaftler.

Guttenberg, Koch-Mehrin und Chatzimarkarkis hätte auch eine Maschine gefunden, Software erkennt simple, wortgleiche Übereinstimmungen. Sie erkennt allerdings keine logischen Denkfehler, Ideenklau, absichtliche Daten-Manipulationen oder geschickte Umformulierungen.

Deshalb gibt es keinen Grund, findet Borgolte, das gesamte deutsche Lehrstuhl-Prinzip zu kritisieren, in dem ein einzelner, fehlbarer Professor die Kontrolle habe. Denn die Schwachstelle ist zugleich die Stärke: Dieser eine Professor leistet viel mehr kontinuierliche Betreuung als zum Beispiel in Graduiertenkollegs, wo Betreuer manchmal wechseln und aus unterschiedlichen Disziplinen kommen. Schließlich, sagt Borgolte, sei die Wissenschaft als Ganzes von der Ethik nicht zu trennen. Fortschritt sei überhaupt nur möglich, wenn Vertrauen in die Denker besteht und der eine sich auf die Erkenntnisse des Vorgängers verlassen kann. Eine vollständige Überprüfung hieße, jede Arbeit selbst noch einmal zu machen.

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