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Wissen: Die Wende des Amazonas

Vor langer Zeit strömte der Fluss vermutlich von Afrika in den Pazifik – in entgegengesetzter Richtung wie heute

Das andere Ufer ist kaum zu sehen, so mächtig ist der Wasserstrom, der sich durch den Urwald schiebt. Und es ist nicht der einzige Arm, den der Amazonas in seinem Mündungsgebiet am Atlantik speist. Es ist schier unvorstellbar, dass dieser Fluss einmal in die entgegengesetzte Richtung geflossen sein soll – durch jene Gebiete, die heute bis zu 6000 Meter über dem Meeresspiegel liegen – geradewegs in den Pazifik. Genau das behaupten aber Forscher um Carina Hoorn von der Universität Amsterdam im Fachblatt „Geology“ (Band 37, Seite 619).

Der südamerikanische Strom ist der wasserreichste der Erde. Jede Sekunde entlässt er 180 000 Kubikmeter Wasser in den Atlantik, was dem Inhalt von mehr als einer Million Badewannen entspricht. Auf dem Weg zur Küste bringt der Amazonas jede Menge Schlick und Schwebstoffe mit, die sich vor allem in der großen Deltamündung ablagern. In 1000 Jahren sind es durchschnittlich 1,22 Meter Sediment, das ursprünglich von den Osthängen der Anden stammt.

Als Carina Hoorn und ihre Kollegen in diesem Mündungsdelta Bohrkerne aus 4500 Meter Tiefe untersuchten, entdeckten sie eine Grenzschicht, die zwischen 11,8 und 11,3 Millionen Jahre alt ist. Oberhalb dieser Grenze fanden die Forscher zahlreiche Fossilien winziger Lebewesen, die einst in den heutigen Anden zu Hause waren. Unterhalb dieser Grenze blieb die Suche nach diesen Mikrofossilien erfolglos. „Das zeigt, dass der Amazonas erst seit etwa 11,5 Millionen Jahren von West nach Ost zu seiner heutigen Mündung fließt“, schließen die Forscher. Weil Flüsse stets durch Täler und niemals quer durch die Landschaft fließen, muss der Amazonas also eine Wende um 180 Grad gemacht haben und zuvor von Ost nach West geströmt sein.

Lange vor dieser Umkehr könnte der Ur-Amazonas nicht nur in die andere Richtung geflossen sein, sondern das weitaus größte Fluss-System gewesen sein, das es je auf der Erde gab. „Diese Idee wird jedenfalls von einigen Geowissenschaftlern intensiv diskutiert“, berichtet Onno Oncken vom Geoforschungszentrum Potsdam, der die geologische Geschichte der Anden untersucht.

Der Idee zufolge könnte der Ur-Amazonas vor gut 130 Millionen Jahren im Ennedi-Massiv entsprungen sein, das heute im Nordosten des Tschad mitten in der Sahara liegt. Damals hingen Afrika und Südamerika noch zusammen und bildeten den Superkontinent Gondwana. Über den heutigen Tschad-See und das Tal des Nigerflusses floss der Ur-Amazonas damals zu einer Schwächezone im Kontinent und weiter quer durch das heutige Südamerika. Nach rund 14 000 Kilometern sei dieser gigantische Strom irgendwo zwischen den heutigen Städten Guayaquil und Iquitos in den Pazifik gemündet, die Anden gab es noch gar nicht.

Jahrmillionen später begann zwischen Südamerika und Afrika Magma aus der Tiefe zu quellen und drückte die beiden Kontinente mit einer Geschwindigkeit von wenigen Zentimetern im Jahr auseinander. Die Schwächezone versagte vollends und riss über Hunderte von Kilometern auf. „Grabenbruch“, sagen Geologen dazu. Die Lücke zwischen den Erdplatten füllte sich mit Wasser und wurde fortan Südatlantik genannt.

Damit war der Ur-Amazonas in einen afrikanischen und einen südamerikanischen Teil getrennt. „Das heiße Magma in der Tiefe hebt die Ränder eines solchen Grabenbruchs in die Höhe“, sagt Oncken. Heute sieht man dies an jenem Grabenbruch, durch den der Rhein zwischen Basel und Karlsruhe fließt. Östlich des Flusses wölbt sich der Schwarzwald bis in 1500 Meter Höhe, westlich davon ragen die Vogesen empor.

Auch der junge Atlantik war wohl von solchen Randgebirgen gesäumt, an denen sich die Wolken abregneten. Vermutlich war das an der Ostküste Südamerikas genug Wasser, um den Ur-Amazonas westlich des Randgebirges weiter in Richtung des Pazifiks strömen zu lassen. Weiter im Westen trugen die Seitenflüsse noch mehr Wasser in den Strom, der Unterlauf des Ur-Amazonas blieb so erhalten und mündete weiter in den Pazifik.

Bald begann das nach Westen gedrückte Südamerika mit der Erdplatte zu kollidieren, die sich unter dem Pazifik befand. Dieser Zusammenstoß hält an. So wie bei einem Autounfall das Blech sich in der Knautschzone verbeult, faltete sich in der Aufprallzone die Erdkruste auf. „Dort, wo heute die zentralen Anden sind, gab es vor 40 Millionen Jahren mindestens ein Hügelland“, erläutert Oncken die Folgen der Kollision in Südamerika. Damals konnte sich der Ur-Amazonas wohl noch durch die Hügel nagen.

Wie in anderen großen Strömen der Erde in heutiger Zeit schwammen auch damals vermutlich verschiedene Tierarten aus dem Pazifik ein Stück den Ur-Amazonas hinauf. „Vor 25 Millionen Jahren beschleunigte die Gebirgsbildung deutlich und vor zehn Millionen Jahren schaltete sie noch mal den Nachbrenner ein“, sagt der Andengeologe.

Irgendwann konnte der Ur-Amazonas mit dieser wachsenden Gebirgskette nicht mehr mithalten, bald versperrten die Anden den Weg zum Pazifik. Dadurch war jedoch den eingewanderten Seekühen, Delfinen, Haien und Rochen der Rückweg ins Meer abschnitten. Eine Zeitlang wurde der Strom vielleicht nach Norden umgeleitet und mündete in die heutige Karibik. Aber auch dort türmten sich bald die Anden auf. Da es in den Anden viel Niederschlag gibt, floss viel Wasser von den Hängen des noch jungen Gebirges in die östlich gelegenen Regionen.

Als Carina Hoorn die Sedimente im kolumbianischen Teil des Amazonasbeckens analysierte, entdeckte sie bald, was mit diesem Wasser geschah: Vor 15 Millionen Jahren entstand ein riesiges Seengebiet, das mit 1,1 Millionen Quadratkilometern so groß wie Spanien und Frankreich zusammen war. In dieses Seengebiet mündeten die Reste des Ur-Amazonas aus dem Osten.

Dort im Osten kühlte derweil das Magma unter dem Rand des Atlantiks langsam aus und das Land senkte sich wieder ab. Gleichzeitig stieg der Spiegel der Seenplatte weiter an, bis das Wasser einen Ausfluss nach Osten fand: Im alten Bett des Ur-Amazonas schürfte sich dieser Fluss ein neues Bett zum Atlantik.

Vor 11,8 bis 11,3 Millionen Jahren kamen die ersten Sedimente aus den Anden im heutigen Mündungsgebiet des Amazonas an. Aber noch trug der Strom nur wenig Schlamm und Schlick mit sich. Mit der Zeit füllten sich die Gewässer mit Erde und Geröll, die Zuflüsse aus den Anden mitbrachten. So wurde das Land in der Nähe der Anden höher und langsam trug der umgedrehte Amazonas wieder mehr Sedimente zum Atlantik. Vor 2,4 Millionen Jahren wurde dann ähnlich viel Sediment wie heute vor der Mündung abgelagert. Der Amazonas hatte seine heutige Form erreicht.

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