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Dieser Mann will Gaza wieder aufbauen: Kann man Hoffnung konstruieren?
Adnan Enshassi arbeitet im Exil, während seine Familie in Trümmern lebt. Der Ingenieur plant „den Tag danach“. Aber wie baut man dort, wo der Boden noch ein Minenfeld ist?
Stand:
Drei Tage wartet Adnan Enshassi nun schon auf ein Lebenszeichen seiner Frau und Kinder. Manchmal vergeht sogar eine Woche, in der er nichts von ihnen hört. Er sitzt in Berlin, sie in Gaza – fast 3000 Kilometer Luftlinie trennen sie. Ein verzweifeltes Warten, aber kein untätiges. Von seinem Schreibtisch an der Technischen Universität in Berlin aus entwickelt der Bauingenieur einen Plan, wie man ein Gebiet wieder aufbauen kann, das fast vollständig zerstört wurde.
„Ich habe meine Hoffnung nicht verloren, ohne sie kann ich nicht arbeiten“, sagt der Mann, der von sich nur verrät, über 60 zu sein. „Ich muss hart arbeiten, weil meine Leute und mein Land das brauchen.“

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Seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober hat das israelische Militär bis zu 85 Prozent des Küstenstreifens zerstört.
Ein Ende ist nicht abzusehen, trotz der seit dem 10. Oktober 2025 geltenden Waffenruhe, die regelmäßig gebrochen wird. Mehr als 100.000 Palästinenser:innen wurden in Gaza getötet, schätzt eine aktuelle Untersuchung des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung und des Centre for Demographic Studies. Die Überlebenden hausen zwischen 60 Millionen Tonnen Trümmern.
Wie kann man ein Gebiet, das kaum noch existiert, zu dem es keinen Zugang gibt und in dem von Frieden noch immer keine Rede sein kann, rekonstruieren?
Adnan Enshassi, Technische Universität Berlin
Würde man den Central Park in New York mit einer zwölf Meter hohen Mauer umgeben, ließe er sich vollständig mit diesem Schutt füllen, schätzte der „Guardian“ kürzlich. Beton, Stahl, Holz und Glas sind mit toxischen Stoffen vermischt, krebserregendem Asbest und dem schädlichen Feinstaub zerbombter Wohnblöcke, unter denen sich noch immer nicht geborgene leblose Körper befinden.
Und dann liegen im Gebiet noch Tausende nicht detonierte Sprengkörper. Enshassi geht von 17.000 aus, darunter zweieinhalb Meter große, zwei Tonnen schwere Metallkörperraketen.
Arbeiten, um nicht zu zerbrechen
„Wie kann man ein Gebiet, das kaum noch existiert, zu dem es keinen Zugang gibt und in dem von Frieden noch immer keine Rede sein kann, rekonstruieren?“
Um diese Frage kreisen Enshassis Gedanken. Seit Monaten versucht er, eine Antwort zu finden. Oft arbeitet er sieben Tage die Woche, auch nachts. Die Angst um die Familie macht Schlaf ohnehin unmöglich.
„Bevor wir irgendetwas bauen können, müssen wir die Gefahren von nicht explodierten Waffen beseitigen“, sagt Enshassi. Denn sowohl der Asbest als auch die explosiven Reste sind lebensgefährlich. Sie sind verteilt über die gesamte Region. Man findet sie auf Straßen, in Innenhöfen und in Wohnhäusern, oder was noch von ihnen übrig ist. Menschen leben mit Bomben, die jederzeit hochgehen könnten.
Und sie atmen Staub, der sie krank macht: Asbest setzt sich in der Lunge fest, kann sie vernarben, sodass das Atmen schwerfällt, und Krebs auslösen. Etwa 800 Tonnen Asbest befinden sich in Gaza, so viel wie über 100 voll beladene Müllwagen wiegen.
Zwischen Trümmern und Sprengstoffkörpern
Enshassis größtes Problem ist aber, dass es keine belastbaren Informationen darüber gibt, wo der Asbest besonders konzentriert ist oder wo sich die Sprengkörper genau befinden. Der Bauingenieur nutzt Satellitenbilder des Katastrophenmanagements der UN. Diese zeigen zwar, wo die Zerstörung liegt, aber nicht, welche Gebäude nur teilzerstört, kontaminiert oder gefährdet sind.
Aber selbst wenn man es wüsste, könnten Räumtrupps nicht einfach loslegen. „Man kann nicht räumen, wenn die Leute da sind“, sagt Enshassi. „Und man kann sie nicht wegschicken, wenn es keinen Ort gibt, an den sie gehen könnten.“
Er zeigt ein Foto aus einem Stapel von Bildern, die er vor dem Gespräch extra ausgedruckt hat, um jedes seiner Worte zu bekräftigen. Zu sehen ist ein Junge, der mitten auf einer staubigen Straße sitzt und in die Kamera grinst, während er neben einem glänzenden zylindrischen Metallkörper steht, der genauso groß ist wie er selbst. Ein nicht detonierter Sprengkörper.

© IMAGO/Hamza Z. H. Qraiqea
Derzeit sind 1,9 Millionen der Menschen in Gaza vertrieben, das sind 90 Prozent der Bevölkerung. Das UN-Nothilfebüro spricht von Hunderttausenden, die in improvisierten Zelten, notdürftigen Unterständen oder unter freiem Himmel leben.
Dazu gehören auch Enshassis Frau Hamdia, sein Sohn Moath und seine Tochter Afnan. Beide sind Ärzt:innen in Gaza, Afnan, 31 Jahre alt, arbeitet zusammen mit „Ärzte ohne Grenzen“, Moath, 27 Jahre alt, wechselt zwischen dem Al-Shifa- und Al-Mamdani-Krankenhaus hin und her.
Beide betreuen Verwundete, auch psychologisch. Auch ihr Haus in Gaza-Stadt wurde bombardiert, auch sie mussten in den Süden fliehen und hatten lange keinen Ort, an dem sie bleiben konnten. Inzwischen leben sie in einem Haus ohne Wasser, Strom und Internet – eher Notunterkunft als ein Zuhause.
Dass sie dort in Gefahr sind und Enshassi hier im sicheren Berlin sitzt, war so nie geplant. Der Krieg brach aus, als der Familienvater auf einer internationalen Konferenz für Bauingenieurwesen in Italien war. Danach blieb Gaza für ihn verschlossen. Er strandete in Ägypten.

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Von Kairo aus kontaktierte er seinen langjährigen Kollegen Matthias Sundermeier an der TU Berlin und bewirbt sich mit seiner Hilfe bei der Philipp-Schwartz-Initiative der Humboldt-Stiftung, die gefährdete Wissenschaftler:innen fördert. Normalerweise ein Verfahren von Monaten, Enshassi bekommt die Förderung schon nach zwei Wochen. „Sehr dankbar“ sei er dafür, betont Enshassi und zieht aus seinem Papierstapel eine ganze Liste hilfreicher Kolleg:innen, die er in keinem Gespräch unerwähnt lässt, um seine Dankbarkeit zu zeigen.
Physisch ist er zwar in Berlin, in Sicherheit, aber gedanklich ist Enshassi in Gaza, im Kriegsgebiet, inmitten der Trümmer, Tag und Nacht. „Wenn ich arbeite, vergesse ich manchmal meine Sorge“, sagt er. Es klingt fast wie ein Mantra, eine Formel, die er verfolgen muss, um sich selbst zu schützen und nicht zu verzweifeln.
„Ich versuche, diese Hoffnung auch an meine Familie weiterzugeben“, sagt er. Denn es gibt ein Ziel, das aktuell alles andere überlagert: die Familie so schnell wie möglich nach Deutschland zu holen. Bisher aber lehnt Deutschland humanitäre Visa und Familiennachzüge aus Gaza ab.
„Meine Kinder würden hier das Aufbaustudium fortsetzen und dann zurückgehen, um zu helfen“, sagt er. Denn um Gazas Wissenschaft stand es schon vor dem 7. Oktober nicht gut. Jetzt aber ist sie nahezu vollständig zum Erliegen gekommen.
745.000 Schüler:innen gehen seit Oktober 2023 nicht mehr zur Schule, meldet die UNESCO. Darunter fallen auch etwa 88.000 Studierende, deren Ausbildung seit mehr als vier Semestern unterbrochen ist. Laut derselben Erhebung sind heute über 95 Prozent der Schulgebäude nicht mehr nutzbar, 79 Prozent der Hochschulen und 60 Prozent der Berufsbildungszentren wurden beschädigt oder zerstört.
Laut dem „Palestinian Central Bureau of Statistics“, das der Palästinensischen Autonomiebehörde unterstellt ist, wurden außerdem seit Kriegsbeginn mehr als 2200 medizinische Fachleute und Bildungsfachkräfte getötet.
In der Fachzeitschrift Nature werden die Wiederaufbaukosten allein für die Bildungsstruktur Gazas auf eine Milliarde US-Dollar geschätzt. Die gesamten Kosten für den Wiederaufbau belaufen sich demnach aktuell auf etwa 70 Milliarden US-Dollar.
Wer soll diesen Wiederaufbau finanzieren? Und unter welchen politischen Bedingungen kann er überhaupt beginnen?
Alles zweitrangig, ohne ein Ende der Gewalt
Darauf hat Enshassi als Bauingenieur keinen Einfluss. Wohl aber kann er Pläne entwickeln, wo das Geld, sollte es irgendwann zur Verfügung stehen, am sinnvollsten eingesetzt wäre. Trumps „20-Punkte-Friedensplan“, an dessen Resolutionsentwurf Katar, Ägypten, Saudi-Arabien, die Türkei und die Emirate mitgeschrieben haben sollen, sieht umfangreiche Investitionen und einen internationalen „technokratischen“ Wiederaufbaumechanismus vor.
Parallel dazu hat auch die Palästinensische Autonomiebehörde einen eigenen Wiederaufbauplan erarbeitet, allerdings hat sie seit der Machtübernahme der Hamas kaum mehr Rückhalt in der palästinensischen Bevölkerung.
Wiederaufbau ist Heilung.
Adnan Enshassi
Doch aus Enshassis Sicht ist all das zweitrangig, denn „nur wenn die Gewalt endet, können die Menschen in Gaza sich erholen, ihr Leben wieder aufbauen und ihre zerstörten Häuser nach zwei Jahren Krieg überhaupt erst rekonstruieren“, sagt er.
Dafür müssten allerdings genug Spezialkräfte von der UN entsandt werden können, um aufzuräumen. Sie bräuchten außerdem ausreichend Spezialausrüstung, etwa Detektoren, um explosive Metallkörper zu identifizieren und giftigen Asbest zu beseitigen. Es bräuchte Maschinen, die im Anschluss die Trümmer davontragen könnten, oder mobile Recyclingmaschinen, um Betonbruch, Stahlreste und Schotter aus den Trümmern zu gewinnen und damit neu zu bauen.
Keine Rekonstruktion ohne palästinensische Beteiligung
Vor allem aber müssten die Menschen vor Ort eingebunden werden, denn „Wiederaufbau ist Heilung“, so Enshassi. So könnten auch Frauen, Jugendliche und Studierende ihr Zuhause wieder aufbauen. Wenn die Menschen aufräumen, wenn sie mitplanen, wenn sie selbst Hand anlegen, entstehe etwas, das Enshassi als „inneren Boden“ beschreibt.
Das hat aber nicht nur psychologische Gründe. Enshassi und andere Wissenschaftler:innen aus Gaza betonen, dass Fachleute aus der Region selbst diesen Prozess anführen müssten, denn sie kennen das Land, seine Strukturen und Bruchstellen.
Deswegen ist für Matthias Sundermeier, der das Fachgebiet Bauwirtschaft an der TU Berlin leitet, Enshassis Arbeit unverzichtbar: „Er hat persönliche Kontakte in die Region, die wir nicht haben, und kennt sie aus einer viel besseren Perspektive“, sagt er. „Seine Forschungsideen sind wissenschaftlich sehr tragfähig. Wir sehen darin noch viel Potenzial.“ Tatsächlich ließe sich Enshassis Plan auch in anderen kriegsgebeutelten Ländern nutzen, etwa in der Ukraine, sagt Sundermeier.
Auch Markus Butler vom Institut für Baustofftechnik an der TU Dresden attestiert Enshassis Konzept den „Stand der aktuellen Wissenschaft“. Doch „vermutlich wird die Finanzierung schwierig“, sagt er. So sei etwa das systematische Kartieren von Schadstoffen an aufwendige Laboranalysen gekoppelt.
Außerdem könnte die Bausubstanz schon vor Kriegsbeginn mit problematischen Materialien vermischt worden sein – unter anderem, weil es durch israelische Importsanktionen zu Engpässen bei Baustoffen kam. Es sei wohl jedes Material genutzt worden, das zu finden war. Ganz egal, ob es sich als Baustoff eignete – ob giftig oder nicht, war möglicherweise zweitrangig. Es müsste also vermutlich alles kartiert und sortiert werden. „Das dauert und kostet“, so Butler.
Von Wiederaufbau noch weit entfernt
Es ist diese Realität, die dem Umsetzen von Enshassis Plan im Wege steht. Noch immer haben die USA, Israel und die Hamas keine Einigung im Rahmen des Friedensplans erzielt. Die Hamas verweigert eine Entwaffnung, Israel lehnt einen palästinensischen Staat ab und verweigert, seine Soldaten abzuziehen. Die Grenzen bleiben zu, und die benötigte Einfuhr von Hilfsgütern, Maschinen und Baumaterialien ist, bis auf wenige Ausnahmen, noch immer blockiert.
Und während die Waffenruhe für den Wiederaufbau notwendig ist, fallen weiterhin Schüsse und Bomben in dem Küstenstreifen und töten genau jene Bevölkerung.
Enshassi weiß das. „Ich habe meine Hoffnung nicht verloren, wie soll ich ohne sie arbeiten?“
Wann kann er in Gaza umsetzen, was er in Berlin plant? Das weiß er nicht. Er sagt, er will wieder zurück, sobald es sicher ist.
Bis dahin bleibt er in Berlin, in einer Wohnung der Universität, die er kaum verlässt. Mit einem Handy auf dem Schreibtisch, das er nie auf lautlos stellt.
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