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Neues Bild vom Menschen. Blick in das Notfallzentrum des Universitätsklinikums Jena, in dem auch Computertomografien möglich sind.

© picture alliance / dpa

Digitale Revolution: Big Data - eine große Chance für die Medizin

Bessere Therapien für besser informierte Patienten: Warum das elektronische Zeitalter ein Grund zum Optimismus in der Heilkunde ist.

Im 20. Jahrhundert standen im Mittelpunkt des Gesundheitswesens der Verkauf von Arzneimitteln und die Entwicklung von Technologien. Das 21. Jahrhundert sollte das Jahrhundert der Ärzte und Patienten werden. Wir werden die Gesundheitskompetenz von Ärzten und Patienten mithilfe der Digitalisierung fördern und eine bessere medizinische Versorgung bei einer höheren Kosteneffizienz erreichen. Wo der Fokus bislang auf Forschung, Technik und ökonomischen Ressourcen lag und primär nutzenorientiert war, wird es in Zukunft stärker um die Bedürfnisse der Nutzer gehen. Der erste (traditionell öffentliche) und zweite (privat finanzierte) Gesundheitsmarkt wird ergänzt und erweitert durch einen dritten, gemeinnützigen und kooperativen Gesundheitsmarkt. Unsere Gesundheit wird durch die Digitalisierung neu vermessen. Der digitale Wandel ist ebenso tiefgreifend wie die Erfindung der Röntgenstrahlen oder die Entdeckung der Antibiotika. Um die Chancen zu nutzen, brauchen wir eine Kultur des Wandels und der Chancen.

Wir leben in einer Gesundheitsgesellschaft. Gesundheit bekommt eine neue Bedeutung. Sie wird von einem Zustand zu einem aktiven Lebensgefühl. Ziel ist nicht mehr allein die Abwesenheit von Krankheit. Es geht um aktive Selbstbefähigung und um körperliche und mentale Fitness. Zu den beiden Megatrends, denen sich die Gesundheitsversorgung in den kommenden Jahren stellen muss, gehören der demografische Wandel und die Digitalisierung.

Ein immer längeres Leben kann Wirklichkeit werden

Die Alterung bedeutet im Kern eine Gesellschaft des langen Lebens. Was heute Utopie ist, ist morgen Vision und übermorgen Wirklichkeit. So arbeitet der technische Leiter der Entwicklungsabteilung von Google, Ray Kurzweil, an Modellen der Lebensverlängerung. Seine Vision ist die Unsterblichkeit, die aus der Verschmelzung von biologischer und technischer Intelligenz besteht. Das mag ferne Zukunftsmusik sein. Sicher ist: Wir werden unsere Gesundheit in Zukunft über eine immer länger werdende Lebensspanne erhalten. Dabei geht es nicht mehr um einen Kampf gegen das Altern (Anti-Aging), sondern um die aktive Gestaltung des Lebens (Pro-Aging).

Mut zum digitalen Wandel. Der Autor Prof. Dr. med. Axel Ekkernkamp leitet das Unfallkrankenhaus in Berlin-Marzahn.
Mut zum digitalen Wandel. Der Autor Prof. Dr. med. Axel Ekkernkamp leitet das Unfallkrankenhaus in Berlin-Marzahn.

© Kitty Kleist-Heinrich

Neue Technologien in der Medizin bieten Chancen für eine bessere und effizientere Versorgung. Ziel ist vor allem der Erhalt der Selbstständigkeit älterer Menschen. Medizin und IT wachsen dabei immer stärker zusammen. Erkennbare Entwicklungen sind eHealth, Telemedizin und Telemonitoring. Mikroroboter werden in die Blutbahn gespritzt und messen den Blutdruck, erkennen einen drohenden Herzinfarkt oder Krebs im Frühstadium. In der neuen Titanhüfte befindet sich ein Chip, der als Schrittzähler fungiert, den Insulinspiegel misst und automatisch einen Notruf tätigt, wenn der Besitzer stürzt und Hilfe benötigt. Gewebeingenieure züchten aus synthetischen Materialien oder dem Gewebe des Patienten Organe und ersetzen damit alte oder kranke Gewebe. Solche Verfahren werden bald so normal sein wie der Herzschrittmacher.

Die digitale Revolution wird sowohl die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen als auch das Angebot von Gesundheitsversorgern verändern. In Deutschland nutzen heute mehr als zwei Drittel der über 16-Jährigen das Internet und Online-Plattformen zur Beschaffung gesundheitsrelevanter Informationen. Je jünger, desto aktiver wird das Internet als Informationsquelle genutzt. Das hat Folgen für traditionelle Gesundheitsexperten wie Ärzte und Therapeuten. Der Bürger wird zum zentralen Gesundheitsakteur.

Der Patient ist Partner, nicht Gegner

Der Gesundheitsbürger ist aufgeklärt und sieht sich mit dem Arzt seines Vertrauens auf Augenhöhe. Ärzte und andere Gesundheitsexperten verlieren ihre exklusive Deutungshoheit. Ihre Aufgabe wird es sein, nicht um ein Mehr an Informationen zu konkurrieren, sondern gesundheitliches Orientierungswissen herzustellen und den Patienten als Partner einzubinden. Ärzte und Gesundheitsexperten sollten im mündigen Patienten, der sich aktiv beteiligt und sich um sein individuelles Gesundheitsmanagement bemüht, einen Partner und keinen Gegner sehen.

Die Digitalisierung wirkt dabei wie ein Katalysator. Sie macht Gesundheitswissen zugänglich, verschafft dem Einzelnen die Hoheit über seine Gesundheitsdaten und gibt die gesundheitliche Verantwortung in Patientenhand. Der digitale Mehrwert für den Patienten liegt beispielsweise darin, Messungen von Blutdruck, Blutzucker und des Herzrhythmus selbst vorzunehmen. Für den amerikanischen Kardiologen und Genetiker Eric Topol wird Medizin in Zukunft eine „Wissenschaft der Individualität“. Nach unseren Maßstäben ist dies aber ein Widerspruch in sich. Wissenschaft basiert nicht auf Individuen, sondern auf Gruppen, Gesetzen und Durchschnittswerten.

Lebensqualität aus Algorithmen

Big Data und Algorithmen können Gesundheit und Lebensqualität fördern. Es geht um die Verknüpfung riesiger Datenmengen. Die Digitalisierung verändert alle bisher bekannten zeitlichen und räumlichen Dimensionen. Speicherkapazitäten, Zugriffsmöglichkeiten, Transparenz unter Beachtung des Datenschutzes fordern das deutsche Gesundheitssystem heraus.

Big-Data-Analysen können zum Aufdecken von Risiken eingesetzt werden. Anhand von Patientendaten lässt sich berechnen, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Patient nach einer Hüftoperation Komplikationen entwickelt. „Zu Hause gesund werden“, „Alt werden an einem Ort“ oder „Glücklich und gesund zu Hause älter werden“ sind die Versprechen. Verboten bleiben muss die Diskriminierung von Versicherten und Patienten. In der gesetzlichen Krankenversicherung gilt auch im digitalen Zeitalter das Solidarprinzip. Eine Individualisierung der Risiken würden die Bürger nicht akzeptieren.

Das Verhältnis von Arzt und Patient wird wichtiger als jemals zuvor

Dabei wächst die Menge der Gesundheitsinformationen schneller, als Spezialisten sie verarbeiten können. Mithilfe von Algorithmen lassen sich Informationen effizienter und besser verarbeiten. Schon warnen Kritiker, dass in Zukunft Algorithmen Ärzte ersetzen und der Arzt zum computerabhängigen Assistenten degradiert wird. Das Gegenteil ist richtig. In Zukunft wird das Verhältnis zwischen Arzt und Patient als Maßstab in der Gesundheitsversorgung wichtiger. Je besser und intensiver sich der Arzt um den Patienten vor, während und nach einer medizinischen Leistung kümmert, desto höher ist die Qualität der Behandlung.

Die Digitalisierung, Virtualisierung und dezentrale Versorgung durch eHealth-Anwendungen bieten viele Vorteile: von Kostensenkungen über Synergien bis hin zu Kompetenzgewinnen. Für ein besseres Arzt-Patienten-Verhältnis bleibt mehr Zeit, da intelligente, mitdenkende Systeme die Arbeit von medizinischen Fachkräften erheblich entlasten und verbessern. Weil wir aber auch mithilfe von Big Data und Algorithmen niemals über vollkommene Informationen verfügen werden, bleiben unsere Vorhersagen fehlbar. Entscheidend ist am Ende die Haltung. Der Arzt als Gegenüber mit Einfühlungsvermögen bleibt für den Patienten der wichtigste Vertrauensfaktor.

Verantwortung, Vertrauen und Transparenz gehören zusammen

Durch Individualisierung und Digitalisierung wird Vertrauen entscheidend. Viele Bürger sind um den Schutz ihrer Gesundheitsdaten besorgt. Um sie in ihrer digitalen Mündigkeit zu stärken, müssen wir digitale Verantwortung, Vertrauen und Transparenz zusammendenken. Dafür braucht es mehr qualifizierte Information und digitale Selbstbestimmung. In Estland sieht jeder Patient anhand seiner digitalen Patientenakte, wann welcher Arzt auf seine Daten zugreift. Missbrauch wird hart bestraft.

Über offene und partizipative Plattformen und Netzwerke lassen sich die Daten und das Wissen auch für Patienten bündeln, um die medizinische Forschung voranzubringen. Voraussetzung ist, dass alle Beteiligten über ein Mindestmaß an Gesundheitskompetenz verfügen. Gesundheitskompetenz betrifft das Wissen über die Folgen unserer Lebensweise und die Verantwortung für unser Leben. Anfangen sollten wir damit in den Schulen.

Gute Ärzte, Kliniken und Gesundheitsexperten müssen die Digitalisierung nicht fürchten, schlechte dagegen schon. Medizinische Leistungen werden künftig vermehrt öffentlich, das heißt auch in den sozialen Medien und auf Plattformen, bewertet. Die Reputation von Ärzten und Kliniken wird zunehmend im Internet sichtbar und diskutiert. Ärzte und Kliniken sollten die Chancen der neuen Medien nutzen und in der Bewertung durch ihre Patienten keine Bedrohung sehen. Die Machtverteilung zwischen Ärzten und Patienten wird sich verändern. Sie werden deswegen keineswegs überflüssig, aber ihre Rolle wird sich grundlegend verändern. Der neue Dreiklang in der Gesundheitsversorgung von morgen setzt auf Fachkompetenz, Transparenz und Kommunikation.

Roboter sind zu feineren Eingriffen als Ärzte fähig

Die Digitalisierung wird vor allem die Arbeit der Ärzte und ihre Beziehung zu den Patienten verändern. Schon heute kooperieren Mensch und Maschine im Gesundheitswesen. Roboter sind teilweise zu erheblich komplexeren und feineren Eingriffen fähig als Ärzte. Dies führt nicht zur Entmenschlichung oder zur totalen Automatisierung. Wenn etwas schiefgeht, liegt die Verantwortung beim Menschen, er allein wird in Haftung genommen. Der Mut zum digitalen Wandel muss einhergehen mit der Demut vor den Folgen und Grenzen.

Wir werden daher zwei Dinge lernen müssen: die Chancen der digitalen Technologie zu nutzen und in einer zunehmend technisch bestimmten Welt uns selbst zu verorten. Es geht um digitale und um mentale Achtsamkeit und um die Präzisierung dessen, was uns als Gesundheitsdienstleister ausmacht. Die Digitalisierung mit ihren Technologien und Algorithmen fordert uns gleich doppelt heraus. Um erfolgreich bestehen zu können, werden wir uns verändern müssen. „Wir“ heißt: Ärzte und Patienten. Aber liegt nicht in der Fähigkeit des sich ständig neu Erfindens unsere eigentliche Stärke als Menschen und der wichtigste Unterschied zur Maschine?

Der Autor ist Ärztlicher Direktor und Geschäftsführer der Berliner BG-Klinik, Professor für Unfallchirurgie an der Universitätsmedizin Greifswald und Mitglied des „Ayinger Kreises“. Der Text ist ein gekürzter Vorabdruck aus dem Buch „gut sein“, das im September bei Hoffmann und Campe erscheint.

Axel Ekkernkamp

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