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Marcus Remmele ist Rohrreiniger bei der Reinickendorfer Fima Rund 24.

© Thilo Rückeis

Digitales Leben: Verkehr frei, Abfluss frei

Navis werden immer ausgeklügelter. Davon profitieren auch Handwerker – zum Beispiel ein Reinickendorfer Rohrreiniger. Ein Beitrag aus der Tagesspiegel-Serie "Mein digitales Leben".

Wenn Marcus Remmele von HD redet, meint er nicht unbedingt das Fernsehprogramm, sondern Abwasserrohre. In seiner Branche steht HD für Hochdruck und dient dazu, widerspenstige Ablagerungen zu entfernen. Marcus Remmele ist Rohrreiniger. Der 30-Jährige arbeitet für ein mittelständisches Berliner Unternehmen. Das klingt nicht unbedingt nach High Tech, dennoch wird seine Arbeit wesentlich von der Digitalisierung geprägt. Denn damit das Handwerk auch in Zukunft goldenen Boden hat, müssen auch Rohrreiniger mit modernster digitaler Technik arbeiten.

Die Firma Run 24 ist ein junges Unternehmen mit einem enormen Wachstumstempo. Im Jahr 2000 wurde es mit drei Mitarbeitern gegründet. Seit 2012 hat das Rohr- und Kanalreinigungsunternehmen seinen Sitz in Reinickendorf, verkehrstechnisch günstig gelegen in der Nähe der Stadtautobahn. Die Zahl der Mitarbeiter wuchs auf 35, in diesem Jahr sollen drei weitere Rohrreiniger eingestellt werden.

Das Ende der Zettelwirtschaft

„Ohne die Digitalisierung der Auftragsabwicklung wäre das nicht möglich gewesen“, sagt Sven Fietkau, der Gründer und Chef des Unternehmens. „Vor fünf Jahren haben mir meine Disponenten gesagt, dass sie die Arbeit so nicht mehr bewältigen können.“ Bis dahin wurden die Aufträge mit Zetteln auf einer Wandtafel organisiert. Im Durchschnitt telefonierte die Zentrale vier Mal mit den Monteuren, bis ein Auftrag erledigt war. „Oft waren die Kollegen nicht erreichbar, weil sie sich in einem Keller oder auf der Autobahn befanden“, so Fietkau.

Die Tafel ist inzwischen verschwunden. An der Wand hängt nun ein großer Bildschirm mit einer digitalen Straßenkarte, auf der jedes Firmenfahrzeug angezeigt wird. Die Disponenten sitzen vor großen Monitoren mit einer elektronischen Plantafel. Die Aufträge erscheinen darauf mit kleinen Rechtecken in verschiedenen Farben. „Es sieht ein wenig wie Tetris aus“, sagt Fietkau. „Und tatsächlich ist das Ziel, die Felder lückenlos zusammenzupacken.“

Die Tetris-Analogie passt gut. Je effizienter das System, desto schneller werden Aufträge abgearbeitet und es gibt wieder Platz für neue Steine. Dass möglichst kein Feld leer bleibt, dafür sorgen zwei Programme – ein Warenwirtschafts- und ein Telematiksystem. Das eine ersetzt die Zettelwirtschaft und erleichtert die Abrechnung. Die Flottenmanagement-Lösung teilt dagegen der Firma mit, wo sich die Fahrzeuge befinden. So können die Aufträge effektiv vergeben werden. Per Handy-Netz werden die Daten auf das Navigationsgerät des Monteurs übertragen, der sich vom Navi auf schnellstem Wege zum nächsten Kunden führen lässt.

Rohrreiniger Marcus Remmele weiß die Vorteile der Digitaltechnik zu schätzen. Privat fährt er zwar lieber ohne Navi, dienstlich lässt er sich leiten. Das neue Auftragssystem hat ihn überzeugt: „Früher konnte es passieren, dass man auf dem Weg von Steglitz zum Wedding den Kollegen zuwinken konnte, die gerade von Wedding nach Steglitz zum nächsten Einsatz fuhren. So etwas passiert jetzt nicht mehr“, sagt er. Jetzt läuft alles über sein Navigationsgerät, das zugleich sein persönlicher Assistent ist. Per Navi erhält er detaillierte Anweisungen - „Abfluss vermutlich durch Socke verstopf“. Per Touchscreen nimmt er Aufträge an und meldet, wenn er den Job erledigt hat. „Der menschliche Kontakt zu den Kollegen in der Zentrale ist allerdings zurückgegangen“, erzählt Remmele. „Früher hat man öfter telefoniert.“

Hinter dem Flottenmanagement steht bei Run 24 die niederländische Navigationsfirma TomTom. Die Berliner Niederlassung sitzt im 28. Stock der Treptowers an der Rummelsburger Bucht. Die 110 Mitarbeiter haben hier einen guten Blick auf Berlin, schließlich ist der Turm das höchste Bürogebäude der Stadt. Um den schnellsten Weg von A nach B zu berechnen, müssen die verschiedensten Faktoren berücksichtigt werden. Die Berliner haben allen Grund, sich über den Verkehr zu beklagen. „Berlin steht regelmäßig in der Top Ten der verstausteten Städte“, sagt TomTom-Manager Andreas Erwig.

Live-Daten aus Berlin

Von Berlin aus werden TomTom-Navigationsgeräte mit so genannten Live-Daten versorgt. Auch die Berliner Verkehrsmanagementzentrale stützt sich darauf. Bei den Livedaten handelt es sich um GPS-Daten, die per Mobilfunknetz übertragen werden. Der niederländische Navi-Spezialist kann auf die anonymisierten Daten von 400 Millionen Smartphones und Navis mit Live-Funktion zugreifen, in Deutschland sind das durchschnittlich 80 000 bis 90 000 gleichzeitig genutzte Geräte, die ein sehr genaues Bild der Verkehrslage zeichnen. Alle paar Sekunden melden sie GPS-gestützt ihre genaue Position. Daraus lässt sich berechnen, ob der Verkehr auf einer Straße fließt oder ob wieder eine Blechlawine im Dauerstau am Dreieck Funkturm festsitzt.

Selbst ohne die Life-Daten über das aktuelle Verkehrsaufkommen kennen die digitalen Karten mehr als den kürzesten Weg. Sie enthalten statistische Informationen, wie schnell man auf einer Straße an einem bestimmten Wochentag zu nach Tageszeit vorankommt – einmal von besonderen Ereignissen abgesehen. Eine eigene Abteilung beschäftigt sich mit diesen „historischen Daten“, die bei Vorhersagen eine wichtige Rolle spielen. Bei längeren Fahrten muss bereits bei Fahrtbeginn abgeschätzt werden, welche Verzögerungen am Zielort auftreten können. Dabei hilft noch eine andere Informationsart: die so genannten „journalistischen Daten“. Gemeint sind damit Informationen über Baustellenplanungen oder Straßensperrungen. Selbst Taxifahrer und andere Berufskraftfahrer ziehen im direkten Vergleich mit dieser Informationsmacht häufig den Kürzeren.

Als bei Run 24 die Technik eingeführt wurde, war es Sven Fietkau besonders wichtig, mögliche Bedenken bei den Mitarbeitern vorab auszuräumen und ihnen zu erklären, dass es nicht um die Einführung einer Kontrolltechnik handelt. „Wir speichern keine Daten. Und es geht nicht darum, den Besuch an der Imbissbude zu verkürzen, sondern darum, die optimale Tour zu finden. Bei einem Wert von bis zu 400 000 Euro pro Fahrzeug spielt aber auch der Diebstahlschutz eine Rolle“, hat er erklärt. Rohrreiniger Remmele fühlt sich jedenfalls nicht an der langen elektronischen Leine.

Nächste Aufgabe: Schneller zum Parkplatz

Die Bedeutung von digitalen Helfern im Straßenverkehr nimmt nicht nur bei selbstfahrenden Autos immer weiter zu. In künftigen Navigationslösungen wird die Parkplatzsuche gleich mit berücksichtigt. Auf die Daten vieler Parkhäuser haben die Navi-Hersteller bereits Zugriff. Die nächste Herausforderung sind die Parkplätze direkt an der Straße. Moderne Autos mit Parkassistent scannen beim Vorbeifahren freie Parklücken. Aber auch Wetterinformationen und Tankstellen-Preise sollen künftig einfließen.

Einen Nachteil haben herkömmliche Navigationslösungen jedoch. Je mehr Menschen sich davon führen lassen, desto stärker werden auch die Ausweichrouten belastet. Das wissen nicht nur die Navi-Hersteller, sondern auch deren Kunden. „Um die Straßen effizient zu nutzen, müssen die Systeme den Verkehr besser verteilen, damit nicht alle die gleichen Schleichwege fahren“, sagt Run-24-Geschäftsführer Fietkau. Damit er auch in Zukunft verstopfte Abwasserrohre so schnell wie möglich reinigen kann.

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