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Männer und Frauen marschieren über einen Platz, dabei halten sie ein Schild mit der Aufschrift Walther de Gruyter hoch.

© De Gruyter/Wolfgang Heinze

Ein Wissenschaftsverlag im Nationalsozialismus: Juden entlassen, vom Krieg profitiert

Angepasste Kriegsgewinnler: Wie sich der Berliner Wissenschaftsverlag Walter de Gruyter mit dem Nationalsozialismus arrangierte.

Im August 1944 standen die Westalliierten vor Paris. Die Rote Armee rückte nach Ostpreußen vor. Berlin versank in Schutt und Asche. Doch der in Berlin ansässige Wissenschaftsverlag Walter de Gruyter & Co. legte mit seinem Bericht für das zurückliegende Geschäftsjahr ein Dokument des Jubels vor. Der Verlag habe die Jahre der wirtschaftlichen Depression von 1930 bis 1933 erfolgreich überwunden und profitiere von der Hochkonjunktur, die 1943 ihren „Gipfelpunkt“ fand. Er habe in diesen Jahren „Weltruf“ erlangt und werde häufig als der wissenschaftliche Verlag Deutschlands bezeichnet. Auch in politischen Kreisen sei De Gruyter anerkannt, sodass die Geschäftsleitung der weiteren Entwicklung „ruhig“ entgegensehen könne.

Der Verlagschef war kein Nazi, wollte aber profitieren

Wie hat sich dieser wissenschaftliche Universalverlag mit den nationalsozialistischen Machthabern arrangiert, um eine solche Erfolgsbilanz vorlegen zu können? Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 hatte Verlagschef Herbert Cram nicht begrüßt. Er leitete das Unternehmen seit dem Tod seines Schwiegervaters, des Verlagsgründers Walter de Gruyter, im Jahr 1923. Cram teilte als national-patriotisch gesinnter Konservativer zwar einige außenpolitische Zielsetzungen der NSDAP. Aber die einfältigen Parolen der Partei, ihre feindliche Haltung gegenüber den Kirchen sowie ihr Antisemitismus waren ihm zuwider; das ist in Briefen und Zeitzeugenaussagen belegt. Ideologische Motive waren für den Anpassungskurs, den der Verlag unter Crams Regie ab 1933 einschlug, also offenbar weniger entscheidend. Opportunistisch bemühte er sich aber, die Existenz des Familienunternehmens zu sichern und größtmögliche Gewinne zu erzielen.

Jüdische Autoren wurden widerstandslos aufgegeben

Gegenüber jüdischen Autoren agierte De Gruyter zunächst vorsichtig und taktierend. Cram wartete ab, bis die Richtung, in die sich die politischen Verhältnisse entwickelten, erkennbar wurde. Anstehende Entscheidungen über Publikationsvorhaben wurden zu Jahresbeginn 1933 zunächst auf Eis gelegt. Aber noch bevor staatliche Regelungen ihn dazu zwangen, war der Verlag willens, deren „Angebote auf Rücktritt“ von Verträgen anzunehmen und sie aus ökonomischem Kalkül widerstandslos aufzugeben.

Schon am 9. Mai 1933 entließ die Verlagskonferenz – das wichtigste Entscheidungsgremium im Hause – den jüdischen Senatspräsidenten am Oberlandesgericht Köln, Alfred Ludwig Wieruszowski, aus seinem Vertrag über das „Lehrbuch für Rechtspfleger“. Auch von ihm lag ein entsprechendes „Angebot“ vor. Der alte Herr, Jahrgang 1857, erlitt in den darauffolgenden Jahren alle Demütigungen, denen die Nationalsozialisten die jüdischen Deutschen aussetzten. Seine vier Töchter konnten fliehen, ihn schützte seine zweite nichtjüdische Ehefrau bis Oktober 1944 vor der Deportation. Am 25. Oktober 1944 floh das Ehepaar Wieruszowski von Köln nach Dresden, wo sie bei ihrer früheren Haushälterin Zuflucht fanden. Am 9. Februar 1945 starb Alfred Wieruszowski im Jüdischen Krankenhaus in Berlin als gebrochener Mann.

Prüfen, ob Neuauflagen "von Ariern" herausgebracht werden können

Zwar kann der Verlag nicht für die staatliche Verfolgung von Wieruszowski in Haftung genommen werden. Doch jede Handlung, jede Entscheidung, die im Einklang mit der rassistischen nationalsozialistischen Ideologie stand, trug mit einem Puzzlestück zur Ausgrenzung des jüdischen Juristen bei.

Zu Beginn war in den Protokollen der Verlagskonferenz sowie in der Korrespondenz der Geschäftsführung noch eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit jüdischen Autoren zu spüren. Die Diktion änderte sich mit den Jahren merklich. Am 31. Januar 1939 hielt das Protokoll der Verlagskonferenz kurz und knapp fest: „1.) Bei Neuauflagen Arierschaft feststellen (nach Nürnberger Gesetzen). 2.) Bei nichtarischen Büchern prüfen, wie weit Neuauflage von Ariern herausgebracht werden kann. 3.) Werbung für Bücher inländischer Juden in Prospekten usw. unterlassen. So beschlossen.“

Kürschners Literaturkalender wurde vorauseilend angepasst

Betroffen waren jüdische Wissenschaftler nicht nur als Verfasser von Monografien oder als Herausgeber, sondern auch als Aufsatzautoren und als Mitherausgeber. Alsbald wurde auch ihre Streichung aus Literaturverzeichnissen diskutiert. Die Regelungen waren für die Wissenschaftsverlage indes keineswegs so eindeutig, dass für De Gruyter keine Handlungsoptionen bestanden hätten. Dies wird an „Kürschners Literatur-Kalender“ deutlich, der bis heute in dem Verlag erscheint. In ihm werden alle lebenden Autoren und Autorinnen der deutschsprachigen belletristischen Literatur – unabhängig von ihrem Schaffens- und Lebensort – aufgeführt.

Als Anfang 1936 turnusgemäß ein neuer „Kürschner“ anstand, war klar, dass eine schlichte Aktualisierung ohne Berücksichtigung der rassenpolitischen Vorgaben des Regimes nicht genehmigt werden würde. Nach den Vorstellungen des Verlages sollten Schriftsteller entfernt werden, die nicht Mitglied der Reichsschrifttumskammer waren, Voraussetzung dafür war die „arische“ Abstammung. Auch Autoren und Autorinnen, denen die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt worden war sowie in Deutschland geborene und wohnhafte „nichtarische“ Schriftsteller sollten gestrichen werden. Jüdische Schriftsteller hingegen, die im Ausland geboren worden waren oder lebten, sollten genannt werden.

Verlegt wurde auch ein lukrativer Bildband zu Olympia 1936

Herausgeber und Verlag waren in vorauseilendem Gehorsam bereit, den Anspruch eines universellen Nachschlagewerks zur deutschen Gegenwartsliteratur aufzugeben, indem sie jüdische und politisch missliebige Schriftsteller unberücksichtigt ließen. Die Zensurinstanzen ließen sich mit der Durchsicht Zeit. Das setzte den Verlag unter Druck, weil der Literatur-Kalender seit 1879 pünktlich im Zwei-Jahres-Rhythmus erschien. Der Herausgeber und Verlagslektor Gerhard Lüdtke entschloss sich daraufhin, selbst alle Streichungen vorzunehmen und dabei „viel schärfere Maßstäbe anzulegen“ als mit dem Propagandaministerium vereinbart.

Eine mit schwarzem Stift geschriebene Liste, auf der zwei Kolumnen jeweils mit einem roten Doppelstrich unterstrichen sind.
Federstrich. In Kürschners Deutschem Literatur-Kalender von 1936 wurden jüdische und politisch missliebige Schriftsteller gestrichen oder mit einem Fragezeichen versehen.

© Abbildung: Staatsbibliothek Berlin

Dies macht deutlich, wie regimekonform sich der Verlag vier Jahre nach Beginn der NS-Herrschaft verhielt. Auf die Idee, die verzögerte Reaktion der Zensurinstitutionen im positiven, liberaleren Sinne zu nutzen und den Charakter des Nachschlagewerks zu erhalten, kam man nicht. Schriftsteller wie Lion Feuchtwanger, Erich Kästner, Thomas Mann oder Else Ury fehlten nun im Unterschied zur 47. Ausgabe aus dem Jahr 1934.

Die Strategie der Anpassung, die mit engen Kontakten zu den politischen Entscheidungsträgern einherging, verlief aus Verlagsperspektive erfolgreich. Das Unternehmen wurde nach Kriegsbeginn als wehrwirtschaftlich wichtiger Betrieb anerkannt. Zu keinem Zeitpunkt drohte die Schließung. Im Gegenteil: Der Verlag erhielt Aufträge von der Wehrmacht, realisierte weiterhin Großprojekte wie seine traditionellen mehrbändigen Handbücher etwa zur Deutschen Sprache oder zum Aberglauben, verlegte äußerst lukrative Bildbände zu den Olympischen Spielen – und er beschäftigte französische Kriegsgefangene in seiner Druckerei.

Abdruck von NS-Gesetzen und Kommentaren

Der Verlag Walter de Gruyter ließ sich, genauso wie die Wissenschaft im NS-Staat, in die Dienste der expansionistischen und verbrecherischen Ziele des Dritten Reiches nehmen. Er hat die ideologische Neuausrichtung von Staat und Gesellschaft akzeptiert, auch durch den Abdruck von NS-Gesetzen und Kommentaren sowie durch den Ausschluss jüdischer Autoren. Und er hat davon erheblich profitiert. Die Option, sich aus politischen Gründen aus der einen oder anderen besonders regimenahen Wissenschaftsdisziplin zurückzuziehen, wurde nicht einmal diskutiert.

Buchvorstellung in Berlin am Donnerstag, 9. Juni

Angelika Königseder ist freie Historikerin in Berlin. Von ihr erscheint in diesen Tagen ein Buch zum Thema (Walter de Gruyter. Ein Wissenschaftsverlag im Nationalsozialismus, Mohr Siebeck, 321 Seiten, 59 Euro). Die Studie, die die Walter de Gruyter Stiftung bei Königseder in Auftrag gegeben hat, wird am Donnerstag, 9. Juni, um 19 Uhr in der Topographie des Terrors (Niederkirchnerstraße 8, 10963 Berlin) vorgestellt. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.

Angelika Königseder

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