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Ein Flüchtlingstreck im Jahr 1945, die Menschen gehen zu Fuß oder fahren auf einem Pferdwagen.

© picture alliance / dpa

Einheimische und Flüchtlinge nach 1945: Bloß nicht in die gute Stube

Einquartiert in Ebstorf: Über den schwierigen Neuanfang von Flüchtlingen und Einheimischen nach Kriegsende. Erinnerungen eines Zeitzeugen.

Tagesspiegel-Kolumnist George Turner, geboren 1935 in Insterburg/Ostpreußen, lebte 1945 bis 1955 in Ebstorf – in einer von vielen Tausenden Flüchtlingsfamilien, die dort in Baracken lebten oder bei niedersächsischen Familien einquartiert wurden. Den Satz „Was wollen die hier“ hörte er oft. Jetzt machte er ihn zum Titel seiner Lebenserinnerungen an die Zeit als Flüchtling, die im Berliner Wissenschafts-Verlag erschienen sind. 1955 bestand Turner am Herzog-Ernst-Gymnasium in Uelzen das Abitur, studierte Rechtswissenschaft und promovierte 1960 an der Universität Göttingen. Nach der Assistentenzeit seit 1963 und ab 1968 als Professor an der TU Clausthal war er 1970-1986 Präsident der Universität Hohenheim, 1979-1983 Präsident der Rektorenkonferenz und 1986-1989 Senator für Wissenschaft und Forschung in Berlin.

Insgesamt verloren durch Flucht und Vertreibung 12 bis 14 Millionen Menschen aus den Provinzen Ost- und Westpreußen, Schlesien und Pommern ihre Heimat. Zehn Millionen von ihnen kamen in den Westzonen an. Da die Fluchtrouten ost-westwärts verliefen, suchten Ost- und Westpreußen Zuflucht vor allem in Mecklenburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen.

Ostpreußische Flüchtlinge in Niedersachsen trafen auf eine einheimische Bevölkerung, der sie wenig willkommen waren, auf eine zusammengebrochene deutsche Staatlichkeit – und auf ein britisches Besatzungsregime, das versuchte, die Ernährung der Bevölkerung, die soziale und gesundheitliche Fürsorge und die Verteilung von Wohnraum sicherzustellen.

Nachdem die Alliierten das Kommando übernommen hatten, wurden Flüchtlinge überwiegend auf dem Land und in Kleinstädten untergebracht, wo keine Zerstörungen wie in den größeren Städten stattgefunden hatten.

Die Bevölkerungszahl im Bezirk Lüneburg erhöhte sich um 78 Prozent

Die Bevölkerung Niedersachsens stieg um mindestens ein Drittel. Von allen Verwaltungseinheiten des künftigen Landes Niedersachsen hatte der Regierungsbezirk Lüneburg aufgrund seiner geografischen Lage den größten Zustrom zu bewältigen. Die Bevölkerungszahl dort erhöhte sich – gemessen an dem Bevölkerungsstand von 1939 – bis September 1946 um 78 Prozent.

Allgemein sah man sich bei Kriegsende und in den ersten Jahren der Nachkriegszeit überrollt vom Strom der vertriebenen Deutschen aus dem Osten. Für viele war der Empfang im Westen ein Schock wegen erfahrener Ausgrenzung und Ablehnung bis hin zu Diskriminierung. Wundern durfte man sich über die Spannungen nicht, trafen doch zum Teil sehr unterschiedliche Lebensgewohnheiten und Kulturen aufeinander.

Das begann mit andersartigen Dialekten, zum Teil unterschiedlichen Konfessionen, anderen Lebens- und Verhaltensformen und gelegentlich abweichenden Wertvorstellungen. Auch waren die Kenntnisse bei den Eingesessenen über die Heimatregionen der Neuankömmlinge nur spärlich.

[Lesen Sie auch unser aktuelles Porträt über einen syrischen Kurden, der nach der Flucht 2014/15 kurz vor dem Masterabschluss an der FH Brandenburg steht: "Wir fühlten uns nicht mehr als Flüchtlinge"]

Vor und neben den Belangen des täglichen Lebens galt die Sorge dem Verbleib von Angehörigen. Soweit das Schicksal von Wehrmachtsangehörigen unklar war, lebten Einheimische und Flüchtlinge insoweit mit der gleichen Ungewissheit und Befürchtung. Bei Flüchtlingen kam erschwerend hinzu, dass Familien auseinandergerissen waren; Eltern hatten ihre Kinder verloren; der Aufenthalt auch anderer naher Verwandter war unbekannt.

So hatten Suchdienste Hochkonjunktur. Sehnsüchtig wurde auf Post gewartet, ob endlich ein Lebenszeichen von vermissten Personen eintraf.

So sehr man Verständnis für die schwierige Lage der Flüchtlinge haben musste, war doch auch die Situation der Einheimischen nicht einfach. Sie mussten fremde Menschen in ihren Wohnungen und Häusern aufnehmen, Räume abgeben und Küche sowie sanitäre Anlagen teilen. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass so gut wie kein Haus im Ort ohne Belegung mit Flüchtlingen war.

Während der letzten Kriegsjahre hatte es bereits einen Zuzug von Großstädtern gegeben, die wegen der Bombenangriffe „aufs Land“ evakuiert wurden, zum Teil in eigens für die „Ausgebombten“ errichtete Behelfsheime.

Ein Streitpunkt: Sollten die "guten Stuben" frei bleiben?

Wegen der fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten an den ursprünglichen Wohnorten war eine sofortige Rückkehr nach Ende des Krieges nicht möglich. Die Knappheit an Wohnraum wurde noch dadurch verstärkt, dass manch ein Haus, besonders wenn es äußerlich attraktiv wirkte, „beschlagnahmt“ wurde und für Angehörige der Besatzungsmacht frei gemacht werden musste.

Das Ergebnis waren Einschränkungen für Einheimische und Flüchtlinge. Die Ankömmlinge lebten auf engem Raum, meist mit mehreren Personen in nur einem für eine Familie zur Verfügung gestellten Zimmer, zum Teil wurden Baracken genutzt, die ursprünglich zu anderen Zwecken, wie zum Beispiel für den Reichsarbeitsdienst, errichtet worden waren.

Cover der Publikation "Was wollen die hier?" mit der Abbildung eines Care-Pakets und eines Vertriebenenausweises.
Cover des Buchs von George Turner.

© Berliner Wissenschafts-Verlag

[Der Text basiert auf einer aktuellen Veröffentlichung George Turners: „Was wollen die hier“. Einheimische und Flüchtlinge 1945 -49. Das Beispiel Ebstorf/Uelzen. Berliner Wissenschafts-Verlag, 2019. 52 Seiten, 12 Euro]

Die britische Militärregierung erließ im März 1946 das „Housing Law“, womit die Basis für die Einrichtung von örtlichen Wohnungsämtern und -ausschüssen gegeben war. Deren Aufgabe war es, den vorhandenen Wohnraum zu erfassen und gerecht zu verteilen. Als Richtwert wurde eine Wohnfläche von vier Quadratmetern pro Person veranschlagt, für Kinder bis zu 14 Jahren die Hälfte.

Der einheimischen Bevölkerung sollte nur der gleiche Wohnraum bleiben, wie er den Flüchtlingen gewährt würde. Ein Streitpunkt dabei war, ob die „guten Stuben“, selten benutzte repräsentative Wohnzimmer, belassen werden sollten. Klagen über egoistisches Verhalten blieben nicht aus, wenn Einheimische versuchten, mit Vorwänden die Zuweisung von Flüchtlingen zu verhindern oder ihnen durch unzumutbare Wohnverhältnisse das Leben schwer zu machen.

So kam es vor, dass Betten in Wohnzimmern aufgestellt wurden, um diese als Schlafzimmer auszuweisen oder Wände eingerissen wurden, um die Zahl der anrechenbaren Zimmer zu verringern.

Maisbrot und Rübensirup - ein für immer vergällter Genuss

Selbst wenn ein Wohnraum beschafft werden konnte, bereitete die Versorgung mit Brennmaterial das nächste Problem – gefolgt von der Lebensmittelknappheit. An das System der Lebensmittelkarten hatte man sich während der Kriegsjahre gewöhnt. Die Mangelbewirtschaftung setzte sich nach Kriegsende fort – für Einheimische und Flüchtlinge.

Die alliierten Besatzungsmächte gaben in ihren jeweiligen Sektoren neue Lebensmittelmarken aus, die entsprechend der Schwere der Arbeit in Verbrauchergruppen eingestuft wurden. Ende 1946 entsprach die vorgesehene Tagesration für erwachsene Normalverbraucher 1550 Kilokalorien. Das waren lediglich 65 Prozent dessen, was Ärzte für die Ernährung eines Erwachsenen als notwendig erachteten. Das „Gesicht“ des typischen, vom Hunger gekennzeichneten Deutschen war Gert Fröbe in dem Film „Berliner Ballade“ (1948) als Otto Normalverbraucher.

[Wie der Tagesspiegel über den Wiederaufbau Berlins nach 1945 berichtete, lesen Sie hier]

Einzelhändler mussten beim Großhändler Karten in dem Umfang abliefern wie sie zuvor Lebensmittel erhalten hatten. Ein Schwund brachte ihnen den Verdacht als „Schieber“ ein, der womöglich Waren „schwarz“ verkauft hatte. Die Zunahme von Tbc-Fällen wurde nicht nur auf die schlechten Wohnverhältnisse, sondern auch die unzureichende Ernährung zurückgeführt.

Gängige Nahrungsmittel waren gelbes Maisbrot in Kastenform und aus Zuckerrüben hergestellter Sirup zum Frühstück sowie Steckrüben als Mittagsmahlzeit mit der Folge, dass der Genuss dieser Lebensmittel den Betroffenen dauerhaft vergällt war. Kinder und Jugendliche wurden zeitweilig durch Schulspeisung vor Unterernährung bewahrt. Ebenso linderten Care-Pakete und der Marshall-Plan die Not. Wer glaubt, in ländlichen Gegenden wäre die Beschaffung „des täglichen Brots“ einfacher gewesen als in den notleidenden Großstädten, verkennt die Situation. Vor allem aus Hamburg reisten auf den überfüllten Zügen, zum Teil auf Trittbrettern oder auf Dächern, Menschen an, die persönliche Gegenstände, namentlich Schmuck, Silber und Porzellan, Teppiche, aber auch Kleidung, Bücher und Spielzeug zum Tausch gegen Lebensmittel, vor allem Kartoffeln, mit sich führten.

Für die Masse der Menschen stand das nackte Überleben angesichts von Trümmern, Hunger, Wohnungsnot, Flucht, Warten auf verschollene Angehörige und Kriegsgefangene, aber auch Schuld und Verstrickung im Vordergrund. Die Aufnahme und Ansiedlung der Entwurzelten war ein lange nicht abgeschlossener Prozess, der von beiden Seiten Anpassung und Veränderung forderte.

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