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Migration und Flucht ist keineswegs nur Phänomen der Neuzeit.

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Einwanderung: Flucht vor Not und Krieg

Schon im Mittelalter veränderten Einwanderer die Kulturen, auf die sie trafen. Beim Berliner Historikertag diskutieren Forscher zahlreiche Parallelen zur Gegenwart.

Von Anna Sauerbrey

Der Migrant Julian kam ins Schwitzen. Im Jahr 540 wurde der Priester in eine Region des heutigen Ägypten entsandt, um die dortigen Bewohner zum christlichen Glauben zu bekehren. Zur Mittagszeit, so berichtet sein Zeitgenosse, der Bischof Johannes von Ephesus, habe es Julian nur in einem Wasserloch in einer Höhle ausgehalten, bekleidet mit nichts als einem Lendenschurz. Wagte er es, sich aus dem Wasser zu erheben, habe seine empfindliche europäische Haut sofort Brandblasen bekommen.

Die neue Heimat fordert von Migranten oft eine erhebliche Anpassung an Neues und Ungewohntes – das war schon im Mittelalter nicht anders. Doch auch in der Vormoderne hielten die Unannehmlichkeiten, die womöglich in der Fremde warteten, die Menschen nicht davon ab, einzeln oder in Gruppen ihre Herkunftsorte zu verlassen und sich in anderen Regionen niederzulassen. Neben den großen „Völkerwanderungen“ der Wikinger und Hunnen suchten Gelehrte und Händler, Diplomaten, religiös Verfolgte oder eben Missionare wie Julian neues Glück und neue Tätigkeitsgebiete jenseits ihrer Heimat.

Dass Migration also keineswegs ein Phänomen der Neuzeit, sondern eine menschheitsgeschichtliche Konstante darstellt, ist auch für die Geschichtswissenschaft nicht neu. Dennoch gehören Wanderungsbewegungen bislang nicht zu den zentralen Forschungsfeldern des Faches. „Wir sind in der Migrationsforschung noch ganz am Anfang“, sagt der Berliner Mediävist Michael Borgolte. Das könnte sich ändern. Angeregt durch die aktuellen Debatten, beschäftigen sich Historiker zunehmend mit der Migrationsgeschichte, ihren Ursachen und Folgen. Auch der Trend zur Globalgeschichte, die gesteigerte Aufmerksamkeit für überregionale Verflechtungen, könnte der Migrationsgeschichte zu einem Aufschwung verhelfen. Borgolte selbst plant ein Forschungsprojekt zur systematischen Erfassung von Migrationsbewegungen und hat eine Sektion zur mittelalterlichen Migrationsgeschichte auf dem Historikertag organisiert, eine von mehreren aus unterschiedlichen Epochen.

Die Ursachen für Migration, so viel lässt sich schon sagen, sind im Vergleich zwischen der Vormoderne und der Jetztzeit erstaunlich konstant. Wirtschaftliche Not, Krieg und religiöse Verfolgung nennt Borgolte als wichtige Ursachen, aber auch Bildungseliten gehörten bereits im Mittelalter zu den Migranten. Der Berliner Historiker Benjamin Scheller etwa beschäftigte sich in seinem Vortrag mit den sogenannten Palast-Sarazenen, Muslimen aus Nordafrika, die im 12. Jahrhundert nach Sizilien kamen. Einige wurden am dortigen Königshof als Hilfskräfte eingesetzt, andere aber waren hochgebildet und sollten im wirtschaftlichen und diplomatischen Austausch mit der muslimischen Welt vermitteln. Vor Verfolgung schützte sie ihre Bildung nicht. Bei einer Revolte des Adels gegen den König 1161 wurden auch zahlreiche Sarazenen erschlagen, selbst die, die sich hatten taufen lassen.

Ein besonderes Augenmerk der Forschung liegt auch auf der Frage, was die Migranten in ihrer Zielregion bewirkten. Missionare wie der Priester Julian kamen mit der Absicht, kulturelle Veränderungen herbeizuführen. Aber auch die, die dieses Ziel nicht hatten, bewirkten faktisch oft das Entstehen „hybrider“ oder „pluralistischer“ Kulturen.

Das Wort „Fortschritt“ meiden Historiker zwar traditionell. Nicht selten aber bewirkten Migrationsbewegungen dabei einen Entwicklungsschub in ihrer neuen Heimat. Der Münchner Japanologe Klaus Vollmer etwa forscht über Einwanderer, die zwischen 300 vor und 300 nach unserer Zeitrechnung aus dem heutigen Südkorea nach Japan kamen. Sie wurden zur Bildungselite und prägten den Aufbau von Staat und Verwaltung mit.

„Auch in unserer Region waren alle wichtigen kulturellen Einschnitte mit Migration verbunden“, sagt der Historiker Borgolte und verweist auf die Einführung des Ackerbaus bei den jagenden und sammelnden Ureuropäern. „Die europäische Geschichte ist seit den Anfängen eine Geschichte der Migration.“

Reibungslos allerdings verlief die Integration von Migranten auch in der Vormoderne selten. „Man erkennt die Reaktionen aus der Gegenwart im Mittelalter wieder“, sagt Borgolte. Die Fremden blieben oft mehr oder weniger unfreiwillig Fremde. Gerade Zuwanderer anderer Religionen hatten es schwer. Heiratsverbindungen, häufig ein erster Schritt zur Vermischung von Kulturen, kamen leichter zwischen Angehörigen derselben Religion zustande. Oft wurden die Nachfahren von Migranten fremder Religionen noch Jahrhunderte als Zuwanderer wahrgenommen. Juden, die im 13. Jahrhundert nach Unteritalien einwanderten und zum Christentum konvertieren mussten, wurden auch im 15. Jahrhundert noch Opfer religiöser Verfolgung. Die „Integration“ der Kulturen beschränkte sich oft auf das Alltägliche und funktionierte, solange Glaubensfragen ausgeklammert wurden.

Grenzen kennt schließlich auch der spannende Vergleich zwischen Vormoderne und Gegenwart. Die Idee der Toleranz und die Vorstellung, dass jemand das Recht hat, anders zu sein, sind dem Mittelalter unbekannt.

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