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Aus den Fugen. Am 11. März stieß ein Erdbeben im Pazifik einen Tsunmai an, der die japanische Küste überflutete. Zehntausende kamen ums Leben.

© picture alliance / dpa

Emotionen nach dem Unglück: Welle der Angst

Panik ist kein guter Ratgeber. Das gilt auch nach Fukushima. Ein Plädoyer für mehr Besonnenheit.

Zuweilen ist es, als werde ein Schalter umgelegt. Dann geht der Strom des Deutens und Meinens nur noch in eine Richtung und dem Strom ist nicht zu entrinnen. Das lässt sich zurzeit hervorragend beobachten: Nach dem Erdbeben, dem Tsunami und dem Unglück im Kernkraftwerk bei Fukushima in Japan herrscht ein auffälliges Missverhältnis in der Wahrnehmung von Risiken.

Hier verschiebt eine unüberbietbare Naturgewalt mit einem Ruck Kontinentalplatten und lässt den Ozean meterhoch über die Küste fluten. Zurück bleiben Trümmerwüsten. Erst nach Wochen wird klar, dass ungefähr 28 000 Menschen in dem Desaster gestorben sind, man will nicht wissen, wie. Dort havariert ein Kraftwerk mit sechs Reaktoren, die von Kernspaltung angetrieben werden. Die Überschwemmung setzt Sicherungssysteme außer Kraft, Radioaktivität breitet sich aus, zehntausende Menschen werden evakuiert. Die Anstrengungen um die Kontrolle und Absicherung des Kraftwerks werden Jahre dauern. Todesopfer sind wegen der Strahlung bisher keine zu beklagen.

Diskutiert wird hierzulande aber fast ausschließlich über letzteres. Warum konnte die eingeübte Angst vor dem Unsichtbaren das Erschrecken vor den Tsunamifluten so leicht übertrumpfen? Wirken die Bilder von der Macht der Tsunamis zu irreal? Die größere Angst vor dem Atom kann nur wachsen, wenn sie auf einen gut gedüngten Boden fällt. Wo, wenn nicht hier: im Lande des naturromantischen Ressentiments gegenüber der widermenschlichen Technik.

Nichts läge doch näher, als den Schluss zu ziehen: Die Kraft der Natur ist verdammt groß, wir haben sie wieder einmal unterschätzt – wir müssen uns künftig noch besser vor ihr schützen. Wie sieht es zum Beispiel mit der Erdbebengefahr in Europa aus, etwa in der Region um Basel? Wie lassen sich Warnsysteme für Tsunamis im Mittelmeer etablieren, die etwa griechische Inseln oder die Hafenstadt Marseille bedrohen?

Aber das wäre viel zu einfach. Stattdessen ist aus den Kommentaren von Politikern und Meinungsmachern zu hören: Die Macht des Menschen über die Natur ist sündig, wir haben uns wieder einmal überschätzt. Wir müssen zurück zur Natur, ihr gefällig sein. Schließlich wissen wir doch: Es gibt gute, mit der Natur versöhnbare Techniken und böse, widernatürliche Techniken.

Die Technik mit der man nicht vertraut ist, wird zum Dämon

Und so rollte eine Flut verängstigender Sprache über Deutschland hinweg: Der GAU und der Super-GAU. Die Atomkatastrophe. Reaktoren außer Kontrolle und die Angst der Japaner vor der nuklearen Wolke. Die Kernschmelze, über Wochen angekündigt, verschoben, erneut drohend, wieder verschoben, schließlich diagnostiziert (verstanden aber nie). Die Helden von Fukushima in der Strahlenhölle, in der Todeszone. Ach, und die Zahlen der Strahlung: Mikrosievert, Millisievert, Sievert gar, Becquerel in Kilogramm Erde und in Liter Milch. Die Zahlen, massiert, gereiht und suggestiv, erklären nichts mehr. Auf solche Weise gebraucht, sind die Zahlen das neue Kraftfutter des Unterbewussten, versteckte Kalorien der Panik.

Woher kommen diese Aussetzer der Vernunft? Die japanische Schriftstellerin Yoko Tawada, die seit langem in Deutschland lebt, zeichnet in ihrer Geschichte „Talisman“ das Porträt einer Frau, die Kleidungsstücke und Porzellanhunde zur Abwehr vermeintlicher Gefahren wie der Chemie im Essen einsetzt. Die Technik, mit der man nicht vertraut ist, erhält die Charakterzüge eines Dämons wie im Märchen. Wir haben es in diesem Fall mit einer kulturellen Regression zu tun.

In der Moderne denken, heißt immer, mit scharfem, wachem Verstand das Risiko und die Chancen wägen – ja, ganz bewusst Risiken einzukalkulieren, weil ein wertvoller Gewinn in Aussicht ist. Darum geht es ständig bei den Dramen unserer Zeit; im Operationssaal, bei der Wahl eines Verkehrsmittels, eines Partners, eines Reiseziels. Vernunft ist nicht genug, oft sind wir nicht ganz im Bilde, können es als halbinformierte Laien gar nicht sein, und so bedarf es über die wissenschaftliche Erklärung hinaus auch einer kulturellen Anstrengung, die uns scheinbar undurchschaubare Techniken näherbringt und sie uns auch als etwas Alltägliches zeigt, das nicht im Widerspruch steht zu unserem sonstigen Leben. In der Moderne führt um diese Anstrengung kein Weg herum.

Doch hierzulande meidet man diese kulturelle Anstrengung immer wieder, die Entscheidung für die Moderne wirkt oft wie eine vorläufige. So wundert es nicht, dass die Risikowahrnehmung massiv gestört ist. Das führte uns letztes Jahr ein Vulkan vor Augen, der unaussprechliche Eyjafjallajökull auf Island. Kaum spuckte er im April 2010 riesige Mengen Asche, die in Richtung Europa verweht wurden, gingen die Alarmsirenen los. Zehntausende Flüge wurden gestrichen, Millionen Passagiere strandeten auf den Flughäfen, wo viele nächtelang auf Pritschen schliefen. Zu den Ursachen zählte auch: Es galt die widersinnige Regel, jedwede Vulkanasche in den Turbinen zu vermeiden – „avoid avoid avoid“ in der Sprache der Fachleute. Dabei wusste man, dass von sehr geringen Aschestäubchen praktisch keine Gefahr für Triebwerke ausgeht. Es wollte aber niemand Verantwortung für einen konkreten Grenzwert übernehmen. Erst nach knapp einer Woche einigten sich die Beteiligten auf ein provisorisches Aschelimit für Turbinen, und die Flieger konnten wieder abheben.

Pragmatische Regelungen wie in den USA und anderen Ländern für solche Fälle finden hier keinen Anklang. Mit dem Vorsorgeprinzip, das vorschrieb, auch den kleinsten Hauch Vulkanasche zu vermeiden, solange die Ungefährlichkeit nicht zweifelsfrei nachgewiesen ist, hatten sich die Europäer selbst ein Bein gestellt. Hätte man das Aschelimit schon vor der Eruption zur Verfügung gehabt, die Flugannulierungen wären nur halb so umfangreich gewesen, und der Schaden, der in die Milliarden ging, wäre deutlich kleiner ausgefallen. Der finanzielle Schaden war ja nicht alles. Man braucht kein Statistiker zu sein, um zu ahnen, dass die millionenfache Reiseänderung von Flugticketinhabern Menschenleben gefordert haben könnte, weil die Reisenden vielfach auf weniger sichere Verkehrsmittel, vor allem Autos, umgestiegen sind. Dieser Effekt lässt sich etwa für die Wochen nach dem 11. September 2001 nachweisen, als die Menschen wegen der Angst vor Terror die Flugzeuge mieden.

Die Angst vor dem Atom ist in Deutschland größer als die Klimaangst

Ob die Abwägung der Risiken und Chancen beim sogenannten Klimaschutz wesentlich besser laufen wird als bei anderen Risiken, kann derzeit noch niemand sagen. Zweifel sind erlaubt. Seit Fukushima gilt in Deutschland die Parole, so ziemlich aus allem auszusteigen, was Verfemtes wie Radioaktivität oder Kohlendioxid produzieren kann – das betrifft vor allem Kernkraftwerke und Kohlekraftwerke. Beim Klimaschutz schließt sich also der Kreis zur Kernkraft, wobei sich kuriose Allianzen bilden. Mehrere Umweltaktivisten, vor allem im angloamerikanischen Raum, plädieren für den Neubau von Kernkraftwerken, um die globale Erwärmung aufzuhalten. In Deutschland aber sticht die Angst vor dem Atom die Klimaangst aus. Die eine hypothetische Gefahr konkurriert also mit einer zweiten, ebenfalls hypothetischen Gefahr.

Doch wie akut sind diese Bedrohungen überhaupt? Die Probleme, die im Kraftwerk Fukushima auftraten, waren im Prinzip bekannt und vorbeugende Maßnahmen sind möglich. Allerdings stellt sich die Frage der Kosten völlig neu und das Problem des Mülls bleibt bestehen. Beim menschengemachten Klimawandel hingegen handelt es sich um eine immer noch vage Vorhersage auf der Basis unvollständigen Wissens und anhand von Modellen, die sich noch nicht ausreichend testen lassen. Man würde rein aus statistischen Gründen Jahrzehnte der Prüfung brauchen. Die Kenntnislücken sind viel größer als bei der Kernkraft.

Die zum Teil paranoide Reaktion auf Fukushima ist bloß die jüngste und heftigste Erregung in einer ganzen Reihe ähnlicher Fälle in den letzten Jahren. Es handelt sich um eine heikle Entwicklung, denn sie rührt an fundamentale Prozesse der politischen Willensbildung. Eine Abrüstung der Sprache der Angst würde die Gesellschaft davor bewahren, künftig bloß noch von einer überängstlichen Aufwallung in die nächste zu taumeln und dabei die rationale Abwägung von Risiken und Chancen, ob hausgemacht oder natürlichen Ursprungs, zu vernachlässigen. Mehr Besonnenheit ist gefragt.

Der Autor ist promovierter Meteorologe und arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Berlin.

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