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Ein Ohr für die Vergangenheit. Stephan Puille ist immer auf der Suche nach frühen Tonaufzeichnungen.

© Thilo Rückeis

Entdecker der Bismarck-Stimme: Wie der Berliner Tonarchäologe arbeitet

Stephan Puille, Restaurator und Labor-Ingenieur an der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft, erforscht alles, was mit alten Tonträgern zu tun hat. Dabei entdeckte er auch eine Aufnahme von Bismarck, die jetzt international Furore macht.

Es rauscht und knistert. Dann erschallt eine Männerstimme: „Jede Hausfrau sollte eine solche Maschine besitzen, weil man damit bedeutend leichter und schneller arbeiten kann als mit der Hand.“ Die Rede ist von einer Waschmaschine, System Krauß, die „bei 110 Grad gründlich desinfiziert. Das heißt, dass alle Krankheitskeime vernichtet werden.“ Man solle nicht nur auf den Preis schauen, ermahnt der Sprecher: „Wenn man bedenkt, welchen Anforderungen die Waschmaschine genügen muss, so kommt man selbst zu der Überzeugung, dass nur das Solideste und Dauerhafteste das Günstigste ist.“

Stephan Puille kann sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er die Grammophonplatte wieder in ihre Hülle verstaut. „Ist das nicht göttlich?“, fragt er. „Manche Argumente ändern sich in über 100 Jahren nicht.“ Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1906, öffentlichen Rundfunk gab es noch nicht. Stattdessen entdeckten Händler gerade die „Sprechmaschine als Reklame-Werkzeug“. Sie stellten ein Grammophon vor ihrem Laden auf und nutzen es als automatischen Marktschreier und Kuriosum für die Kunden. „Eine bedeutende Verkehrsstörung in Form einer Menschenansammlung war natürlich die Folge solcher neuartiger Reklame“, zitiert Puille die „Phonographische Zeitschrift“, ein zeitgenössisches Fachblatt. „Das ist eine der frühesten Werbeaufnahmen überhaupt“, sagt er. „Ein sehr seltenes Dokument.“

Der Berliner Restaurator Stephan Puille verbringt einen erheblichen Teil seiner Freizeit in der Vergangenheit. Ihn fasziniert die Alltagskultur um 1900. Aus seiner Sicht ist es eine gute alte Zeit, als Europa noch nicht von Weltkriegen erschüttert wurde und alles möglich schien. Emil Berliner, der Erfinder der Schallplatte und des Grammophons, ist ein guter Bekannter. Außerdem Thomas Edison und sein Toningenieur Theo Wangemann. Vor kurzem kam Bismarck dazu, dessen Stimme Wangemann unmittelbar nach der Weltausstellung 1889 mit einer technischen Neuheit, dem Phonografen, aufgezeichnet hat.

Dass Bismarck plötzlich zu uns sprechen kann, wurde Anfang Februar als historische Sensation gefeiert. Für Puille, der die Stimme auf einem Tonträger aus den USA identifiziert hat, war es ein Triumph. Nun ist er froh, dass der Medienrummel abebbt. Von „New York Times“ über Tagesspiegel bis „Bild am Sonntag“ riefen fast alle Medien bei dem Laboringenieur an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) in Berlin an, selbst das Fernsehen kam. Und all das mitten im Berufsalltag, wo er Studenten beibringt, wie sorgsam sie mit archäologischem Gut umgehen sollen. Plötzlich interessierten sich alle für sein Hobby. „Das ist schon anstrengend“, sagt Puille. Normalerweise ist für ihn die Arbeit rund um die frühen Tonträger ein Ausgleich zum Trubel an der Hochschule.

Auf der Walze. Mithilfe eines Graphophons lässt Stephan Puille eine Marschkapelle erklingen.
Auf der Walze. Mithilfe eines Graphophons lässt Stephan Puille eine Marschkapelle erklingen.

© Thilo Rückeis

Er sei ein Tonarchäologe, sagt er über sich selbst. Die Leidenschaft für Stimmen aus der Vergangenheit begleitet den 47-Jährigen seit der Kindheit. Mit zehn Jahren hörte er von den einzigartigen Schallplatten des Startenors Enrico Caruso mit rot-goldenem Etikett. „Solche legendären Aufnahmen fand ich absolut faszinierend“, erzählt er. Als Puille später aus dem oberbayerischen Dorf Fischbachau nach Berlin zog, um an der Freien Universität Ur- und Frühgeschichte, Kunstgeschichte und Bibliothekswissenschaft zu studieren, kaufte er sich endlich eine der Platten. Nun musste auch ein Grammophon her, um den neuen Schatz hören zu können.

Für Puille sollte es das erste Gerät einer ganzen Serie werden, die er jeweils wieder verkauft, um ein neues zu erstehen. Heute stehen in seinem Wohnzimmer in Berlin-Steglitz drei Exemplare: ein Grammophon von 1903 mit Ausstellungsschalldose und imposantem Trichter, ein Schrankgrammophon, in dem die damals als vulgär empfundene Technik gänzlich verschwinden kann und ein Münzgrammophon, das in den Wirtshäusern als Jukebox diente. Jedes hat er selbst restauriert. „Ich bin kein typischer Sammler, mir geht es um die Bandbreite“, sagt er. „Ich will selbst sehen, anfassen und hören, worüber ich forsche.“ Digitalisierte Dokumente aus Archiven allein wären ihm zu wenig, ihn interessieren auch die technischen Details, die Materialien, die Herstellungsverfahren.

Warum Wachswalzen wie die mit Bismarcks Stimme so zerbrechlich sind

Die Papprollen auf Stephan Puilles Fernsehschrank wirken auf den ersten Blick wie alte Keksdosen. Lauter Pastelltöne, die Typografie erinnert an den Jugendstil. Ein zweiter Blick verrät, dass in den Rollen nie Lebensmittel, sondern Tonträger lagerten. Die Werbebotschaft „unzerstörbar“, wie sie auf einem der Etiketten zu lesen ist, darf man freilich nicht wörtlich nehmen. Puille weiß das nur zu genau. Bevor er eine der Dosen öffnet, zieht er weiße Baumwollhandschuhe an. Zwei Finger schiebt er sachte in die Schachtel und holt einen etwa 10 Zentimeter langen Wachszylinder heraus.

Braun ist die Walze, unscheinbar. Und doch eine Rarität. Fingerschweiß und Fett würden Schimmel anlocken und sie unbrauchbar machen. Selbst kleine Temperaturunterschiede lassen das wachsartige Material reißen. Es ist ein früher Kunststoff, die Chemiker mussten erst noch das richtige Mischungsverhältnis finden: damit die Walze hart genug ist, um immer wieder abgespielt zu werden, aber auch weich genug, um eine Rille einzuschneiden, die sich pro Zoll 100-mal um die Walze wickelt. Vier Zoll ergeben zwei Minuten Abspielzeit auf dem Graphophon von 1895, dem ältesten Gerät in Puilles Wohnzimmer. „Genau so sieht die Bismarckrolle auch aus“, sagt er. Von dieser hier tönt blecherne Marschmusik. Auf einer anderen rezitiert eine Schauspielerin das Heidenröslein.

„Vielleicht war sie ja berühmt“, sagt Puille. Noch konnte er ihren Namen nicht identifizieren. Dass er Bismarck erkannt hat, verdankt er der Zeit- und Ortsangabe auf der Walze. Und einer mittlerweile 3000 Seiten umfassenden Datei, in die er seit fast 20 Jahren alles zum Thema frühe Tonträger einträgt, was er bis zur Blütezeit der Grammophone vor dem Ersten Weltkrieg in die Finger bekommt.

„Als die Archive um das Jahr 2000 ihr Material digitalisierten und im Internet zur Verfügung stellten, fing die Arbeit erst richtig an“, erzählt Puille. Damals begann er auch, die Dokumente rund um die Erfindung des Phonografen des Edison-Archivs des National Historical Parks (New Jersey) minutiös auszuwerten. Heute gehört er zu einer Handvoll Experten weltweit, die sich mit den frühen Tonträgern im Detail auskennen.

Immer wieder greift Puille dabei auch auf das Wissen der Professoren an der HTW oder die Ausstattung der Labore dort zurück. So klärte er mithilfe der Forschungsmikroskope, wie sich die Firma Berliner Grammophon vor Produktpiraten schützte: Um das Kopieren der Platten zu erschweren, stempelten sie die Rohlinge vor dem Einschneiden der Rillen. Die Tonspur selbst bleibt unversehrt.

Auch den Mythos, die ersten Berliner Schallplatten seien aus Zelluloid gewesen, hat er widerlegt: Das Deutsche Museum in München stellte ihm Materialproben zur Verfügung, die er an der HTW analysieren konnte.

Seine Aufsätze in amerikanischen Fachzeitschriften wurden beachtet und so kam nicht nur die Zusammenarbeit mit anderen Hobbyforschern wie Norman Bruderhofer zustande, der sich der Digitalisierung der frühen Tondokumente verschrieben hat, sondern auch mit Patrick Feaster vom National Historical Park. Im Mai 2011 schickte er Puille die Bismarckdatei – ohne zu ahnen, was er da verschickt hatte. Puille wusste es sofort.

Mittlerweile ist Bismarck für ihn abgehakt, die Suche geht weiter: „Es gibt noch so viel mehr zu entdecken!“

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