zum Hauptinhalt

ERZÄHL MIR WAS ZUM THEMA FESTE Drei Geschichten aus dem Finale: Dr. Bocks Fest

Das ist mein Haus, das ist mein Geburtstag! Der neunzigjährige Jubilar weiß, was er will. Und er kriegt es – eine Geschichte von Sarah Buck

Dr. Bock betritt die Terrasse seines Hauses und lässt den Blick über seinen Garten schweifen. Da, hinter der Eiche, die er selbst vor über 50 Jahren gepflanzt hat, sieht er die schwarz-weiße Nachbarskatze auf der Lauer liegen. Sie wartet nur darauf, dass eines seiner Vögelchen vorbeikommt, um sich darauf zu stürzen. Dr. Bock nimmt seine Steinschleuder, deren Umgang er seit dem Alter von fünf Jahren exzellent beherrscht, und feuert auf die Katze einen walnussgroßen Stein ab. Jaulend springt die Katze auf und rast davon. Zufrieden setzt er sich auf eine Bank und lauscht dem Vogelgezwitscher.

„Vater.“ Dr. Bock schreckt hoch, er muss eingeschlafen sein. Vor ihm steht Marianne, seine Älteste, die seit dem Tod seiner lieben Helene bei ihm lebt.

„Komm, setz dich zu mir“, sagt er. „Es ist ein ganz hervorragender Tag. Hör nur: diese göttliche Stille.“

Rrrrring. Als wolle es seine Worte dementieren, schallt in diesem Moment das Klingeln des Telefons aus dem Haus. Marianne geht hinein und er hört leises Gemurmel. Was hat sie da so viel zu bereden, fragt er sich, als sie wieder auf der Terrasse erscheint. „Na, was gab's?“

„Das ist ein Geheimnis, eine Überraschung.“ Oh Graus. Vor Schreck verirrt sich der Tee in der Luftröhre und Dr. Bock verteilt ihn laut prustend in feinen Tröpfchen auf Marianne. War es etwa schon wieder so weit? War tatsächlich schon wieder ein Jahr herum?

„Keine Überraschungen“, bringt er mit einem dunklen Grollen hervor. „Und vor allem, dieses Jahr KEIN Fest.“

„Du wirst immerhin 90, das passiert nicht alle Tage.“

„Wollt ihr mich an meinem 90. ins Grab bringen? Der ganze Trubel ist viel zu anstrengend für mich.“

„Aber das wird schön, du wirst sehen. Wir haben schon alles geplant und alle haben vor zu kommen.“

„NEIN!“ Zur Unterstreichung haut Dr. Bock mit der Faust auf den Tisch. „Das ist immer noch mein Haus und das ist mein Geburtstag und den will ich in Ruhe und Frieden verbringen, ohne diese wild gewordene Hammelherde.“

„Es wird gefeiert, Vater, und damit Basta!“ Marianne steht auf und geht.

Zum Verrücktwerden ist das, diese Bälger tanzen ihm auf der Nase herum. Wer hat sie so verzogen? Ich mag zwar schon 90 sein, denkt sich Dr. Bock, aber glaubt ja nicht, dass dies die letzte Schlacht war.

Schon Tage vor dem schrecklichen Ereignis geht es los. Alle möglichen Familienmitglieder nisten sich in seinem Haus ein. Jeden Tag kommen weitere dazu und Dr. Bock verflucht sich, dass er so viele Kinder in die Welt gesetzt hat, welche sich wiederum wie die Schmeißliegen vermehren mussten. Er könnte sie alle an die Wand klatschen, wie sie hier herumlaufen, als sei das ihr Haus.

Was ist passiert? Wenn sie sich früher um den großen Esstisch versammelten, an dessen Tischende er thronte, lauschten alle, was er zu berichten hatte von seiner Arbeit als Dorfarzt, den Erlebnissen der Kriegsjahre und seinen Ansichten zur Weltpolitik. Nun geht er unter in diesem bunten Haufen, der ihm unverständliches Zeug plappert, und von dem nur ab und an einer das Wort an ihn richtet, in einer Art und Weise, als sei er ein debiles Kleinkind. Ganz wie ihr wollt, denkt sich Dr. Bock.

„Du hast gar nicht erzählt, wie sehr der Vater abgebaut hat“, sagt seine Tochter Ingrid zu Marianne, als er schnarchend und vermeintlich schlafend auf dem Sofa liegt. „Meine Anna hat er gar nicht mehr erkannt und mich hat er erstmal mit Ute angesprochen.“

„Ach ja?“, erwidert Marianne in gleichgültigem Tonfall, was Dr. Bock außerordentlich verärgert.

„Wo geht's denn hier zum Klo?“, fragt er seinen Sohn Gunther am nächsten Tag. „Können Sie mir das sagen?“ Erschrocken schaut Gunther ihn an, aber da huscht Dr. Bock schon weiter und zieht seiner kleinen Urenkelin im Vorbeilaufen an ihrem langen Zopf.

„Hast du gemerkt, wie der Opa riecht?“, hört er zwei seiner Enkel tuscheln und freut sich, dass es endlich Wirkung zeigt, dass er sich schon seit über einer Woche weder gewaschen noch seine Wäsche gewechselt hat.

Am Abend vor dem großen Tag läuft Dr. Bock dreimal gegen die Glastür der Terrasse, verschüttet seinen Saft über dem teuren Angorapulli seiner Tochter Irma, popelt beim Essen in der Nase und lutscht danach gedankenverloren an seinen Fingern. Zufrieden schläft er ein und kann sich sogar fast ein bisschen auf den nächsten Tag freuen.

Am Morgen seines Geburtstages steht er früh auf und geht in seinem Nachthemd die Treppe hinunter. „Guten Morgen“, grüßt ihn sein Sohn Manfred. „Alles Gute zum Geburtstag! Sag mal, willst du dir nicht lieber was anziehen? Es ist recht kalt im Haus...“

„Kümmern Sie sich um Ihren Dreck", erwidert Dr. Bock, schlüpft barfuß in ein Paar grüner Gummistiefel und macht Anstalten das Haus zu verlassen. Manfred stellt sich seinem Vater in den Weg. „Aber in diesem Aufzug kannst du doch nicht das Haus verlassen, Vater!“

„Lass mich los“, kreischt Dr. Bock.

Bei dem Lärm kommen nach und nach weitere Familienmitglieder aus ihren Zimmern. „Sollen wir nicht lieber alles abblasen?“, fragt Irma. „Der Vater dreht ja total durch.“ „Es wird gefeiert", sagt Marianne und schaut ihrem Vater dabei tief in die Augen. „Ich kümmere mich schon um ihn.“ Sie hakt ihn unter und führt ihn in sein Schlafzimmer.

„Jetzt ist aber Schluss mit dem Theater“, faucht sie ihn an. „Entweder du benimmst dich jetzt anständig oder ich schließe dich in deinem Zimmer ein.“

Und so redet seine eigene Tochter mit ihm? Eine ordentliche Tracht Prügel hätte er ihr damals verpasst, dem frechen Gör. Aber jetzt muss er eine andere Taktik wählen. „Gebuhuhuhuhurtstag...“, singt er leise vor sich hin. „Ich sehe, du willst es nicht anders“, sagt Marianne, verlässt das Zimmer und schließt tatsächlich die Tür ab. Ungläubig starrt Dr. Bock auf die verschlossene Tür, rüttelt daran und setzt sich benommen auf sein Bett.

Am Mittag ist das Fest in vollem Gange. Das Haus und der Garten sind voller Menschen. Nicht nur die Familie ist gekommen, auch viele Leute aus dem Dorf, und soeben klingelt der Bürgermeister an der Tür. „Ja, das ist schade“, sagt Marianne immer wieder. „Dass er ausgerechnet an diesem Tag diese Grippe bekommen hat. Aber er hat sich gewünscht, dass wir trotzdem feiern.“

„Du“, die Kleine mit dem langen Zopf zupft an Mariannes Hemd. „Du musst mal kommen und schauen, was der Opa macht...“ Mit einem süßen Lächeln, das sich innerhalb weniger Sekunden zu einer wütenden Grimasse verzieht, dreht sich Marianne zu der Kleinen um. „Wo?“, fragt sie nur. Das Mädchen führt sie in den Garten. Die Leute schauen erschrocken nach oben und Marianne folgt ihren Blicken. Da sitzt ihr Vater auf dem Fenstersims, nackt, bis auf einen Lendenschurz, sein Nachthemd, das er sich um die Hüfte gewickelt hat. „Ich freue mich, dass ihr so zahlreich erschienen seid“, ruft er. „Ja, ja, neunzig wird man nicht alle Tage, das muss gefeiert werden. Und deswegen habe ich eine Überraschung für euch vorbereitet.“

Der erste Stein trifft den vor Schmerz aufschreienden Manfred am linken Ohr. Dann erwischt es Irma an der Schulter und gleich darauf hinterlässt ein weiterer Stein eine Beule auf Ingrids Stirn. In Blitzgeschwindigkeit feuert Dr. Bock mit seiner Steinschleuder ein Geschoss nach dem anderen auf die Geburtstagsgesellschaft ab. Für den Fall, dass ihm die Steine ausgehen, hat er sich einen Vorrat weiterer Utensilien bereitgelegt, alte Parfumflakons, Pillendöschen und Schmuckstücke seiner lieben Helene. Als er Marianne erblickt, greift er zu dem für sie reservierten Geschoss. Die Puderdose rast auf Marianne zu und explodiert in einer großen weißen Wolke an ihrem Kopf.

Dr. Bock sitzt in seinem Garten und die Sonne scheint auf sein kahles Haupt. Als er die Nachbarskatze hinter der Eiche sieht, schüttet er etwas Milch in eine Untertasse, krümelt ein bisschen von dem Kuchen, den ihm Marianne gebracht hat, dazu und stellt sie auf den Boden.

„Komm, miez, miez“, lockt er das Tier. Langsam und Dr. Bock genau im Auge behaltend, schleicht sich die Katze zu der Untertasse und schlürft die Milch, das Fell gesträubt, jederzeit zu Kampf oder Flucht bereit. Dr. Bock krault sie am Ohr.

„Hast du das mitbekommen, Mieze, was für ein schönes Fest wir hatten? Ein ganz hervorragendes Fest.“

Gekürzte Fassung. Die vollständige Fassung und andere Geschichten aus Halbfinale und Finale unter www.tagesspiegel.de/erzaehlwettbewerb

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false