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Rote Linie. Polizisten trennen am Al-Kuds-Tag im Sommer 2014 in Berlin anti-israelische Demonstranten und Pro-Israel-Aktivisten. Zum diesjährigen Al-Kuds-Tag am 11. Juli hat ein breites Bündnis jetzt erneut zu einer Gegendemonstration in Berlin aufgerufen.

© picture alliance / dpa

Essay von Wolfgang Benz: Der "neue Antisemitismus" existiert so nicht

Antisemitismus nimmt in Deutschland eher ab, die Zahlen bleiben gleichwohl beschämend. Dass aber jede kritische Haltung gegenüber der Politik Israels als "neuer Antisemitismus" denunziert wird, ist weder richtig noch hilfreich, schreibt der Historiker Wolfgang Benz in einem Gastbeitrag.

Die nächtliche Gewalttat gegen den Rabbiner erregte ebenso allgemeinen Abscheu wie der Angriff auf einen Israeli in der Berliner U-Bahn, der pöbelnden Rassisten entgegengetreten war. Judenfeindliche Schmährufe bei einer anti-israelischen Demonstration im Sommer 2014 wurden von Politik, Medien und Publikum entschieden und einmütig verurteilt. Gott sei Dank sind solche Unerfreulichkeiten nicht die Regel, sondern Ausnahme im deutschen Alltag.

Das Verhältnis zu Israel hat in der deutschen Politik herausragende Bedeutung. Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte bei einem Staatsbesuch 2008 in ihrer Rede vor der Knesset die Sicherheit Israels ein Element der Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland. Schon im Sechstage-Krieg 1967 hatten hunderttausende Bürger der Bundesrepublik für das Existenzrecht des Staates Israel demonstriert. Empathie für das Land gehört zu den Grundlagen der politischen Kultur. Doch die bedingungslose Zustimmung bei vielen ist einer skeptischen Haltung gegenüber israelischer Politik gewichen. Dazu trägt das medial wirkungsvoll vorgetragene Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung ebenso bei wie militärische Aktionen und politisch unbewegliche Positionen israelischer Regierungen.

Wo sind Grenzen der Kritik an Israel?

Dass abweichende Meinung und daraus resultierende Kritik an der Politik Israels legitim sind, hat der israelische Staatspräsident bei seinem Besuch in Berlin im Mai 2015 aber ausdrücklich betont. Sein Land werde oft kritisiert – auch aus Deutschland, sagte Reuven Rivlin. Die Frage, ob es Grenzen der Kritik gebe, verneinte er: „Wir fordern nicht, dass die Deutschen in jeder Situation mit uns übereinstimmen müssen.“ Das unterscheidet nicht nur ihn und viele Israelis von jenen Deutschen, die im Eifer der Betroffenheit Antisemitismus bekämpfen, wo immer sie ihn ausmachen, die ausdauernd die Alarmglocke läuten, die durch Leidenschaft auszugleichen hoffen, was an Sachkenntnis fehlt.

Der Mehrheit der Bürger liegt freilich aus ehrlichen Motiven das Schicksal der Juden am Herzen. Deshalb herrscht im Publikum weithin Unsicherheit, ob man Kritik äußern dürfe, ob Mitleid mit den Palästinensern oder der Wunsch nach einer Zweistaatenlösung nicht schon Judenfeindschaft manifestieren würde. Und Interessenten propagieren genau dieses als „neuen Antisemitismus“.

Juden sind zutiefst beunruhigt - verständlich

Jede kritische Haltung gegenüber der Politik Israels als „neuen Antisemitismus“ oder als revitalisierte Judenfeindschaft nationalsozialistischer Observanz zu denunzieren, ist weder richtig noch hilfreich. Dass Juden zutiefst beunruhigt sind, wenn Demonstrationen wie im Sommer 2014 aus Anlass des Gaza-Kriegs auch in Deutschland stattfinden, ist verständlich. Nachvollziehbar ist ebenso, dass Juden sich im Stich gelassen fühlen, wenn junge Araber und Sympathisanten der Palästinenser auf deutschem Boden skandalöse Parolen skandieren.

In der Sorge um Sympathieverlust wird auch die Metapher, Juden säßen in Deutschland „auf gepackten Koffern“, wieder gebraucht. Solche Emotionen sind in Kenntnis der Geschichte zu würdigen und zu respektieren. Von einer „Pogromstimmung in Deutschland“ zu reden, den November 1938 zu beschwören, ist aber kontraproduktiv. Damit werden die beträchtlichen Anstrengungen des Aufklärens über und des Kampfes gegen Antisemitismus der letzten Jahrzehnte ignoriert. Das gilt auch für die deutsche Erinnerungskultur und die Tatsache, dass Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland moralisch geächtet und juristisch kriminalisiert ist wie in keinem anderen Land. Das hat die Kundgebung im September 2014 am Brandenburger Tor in Berlin auf Wunsch des Zentralrats der Juden in Deutschland einmal mehr bestätigt.

Antisemitismus: Was die Realität zeigt

Ein „neuer“ Antisemitismus wird seit Langem prognostiziert. Auguren werden nicht müde, eine Zunahme der Judenfeindschaft in Deutschland zu konstatieren. Die Realität, soweit sie sich mit wissenschaftlichen Methoden erfassen lässt, zeigt ein anderes Bild: Ein von der Bundesregierung 2009 berufener „Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus“ schätzte die Dimension der Judenfeindschaft anhand von Einstellungsmustern über Jahre hinweg auf konstante 15 bis 20 Prozent. Das heißt, im Weltbild eines Fünftels der Bundesbürger gibt es Ressentiments gegen Juden. Das bedeutet aber noch nicht, dass diese Menschen fanatische oder gar gewaltbereite Judenhasser sind. Sie haben jedoch offenkundige Vorbehalte, die sie öffentlich aber nicht artikulieren.

Das sind, nicht nur in Kenntnis deutscher Geschichte, in der solche Emotionen politisch katastrophal wirksam wurden, ernst zu nehmende Symptome eines latenten Antisemitismus. Deshalb werden Einstellungen und Trends sorgfältig beobachtet und analysiert. Das ist Aufgabe einer Antisemitismusforschung, die der Gesellschaft Erkenntnisse und Argumente zur Bekämpfung des Übels zur Verfügung stellt. Ein neuer Expertenkreis hat sich, wieder von der Bundesregierung berufen, kürzlich konstituiert. Er wird wohl zu ähnlichen Ergebnissen kommen wie der erste, auch wenn nach aufgeregten Interventionen doch noch zwei jüdische Mitglieder nominiert wurden.

Ergebnisse einer Studie der Uni Bielefeld

Antisemitismus hat in Deutschland eher eine abnehmende Tendenz. Zu den Ergebnissen der Langzeitstudie an der Universität Bielefeld über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit mit dem assoziativen Titel „Deutsche Zustände“ gehört, dass fast die Hälfte der befragten deutschen Bürger glaubt, dass hierzulande zu viele Ausländer leben. Jeder Fünfte ist dafür, die Zuwanderung von Muslimen zu unterbinden. Ein Drittel glaubt an „natürliche Unterschiede“ zwischen Menschen schwarzer und weißer Hautfarbe und vertritt damit die Überzeugung unterschiedlicher Wertigkeit von Menschen (was ein wesentliches Definitionsmerkmal von Rassismus ist). Optimistisch stimmt lediglich der Rückgang von Homophobie und Antisemitismus.

Der regelmäßig prognostizierte „neue Antisemitismus“ existiert also so nicht. Es ist vielmehr die monotone Judenfeindschaft mit ihren Stereotypen, Legenden, Unterstellungen, Schuldzuweisungen, die sich in Jahrhunderten entwickelt hat. Während religiös argumentierender Antijudaismus hierzulande allenfalls eine marginale Rolle spielt, ist Antisemitismus als politisches, soziales, ökonomisches und kulturelles Vorurteil mit seiner rassistischen Tradition spürbar. Ebenso der „sekundäre Antisemitismus“, der nicht trotz, sondern wegen Auschwitz Ressentiments gegen Juden nährt und sich an Entschädigungen kristallisiert.

Antizionismus ist die akute Version der Judengfeindschaft

Antizionismus ist die akute und meistverbreitete Version der Judenfeindschaft. Ihr Kern ist die Verweigerung des Existenzrechts Israels. Hier treffen sich die arabischen Feinde Israels mit Antisemiten, die etwas gegen „die Juden“ haben, dies aber so nicht äußern dürfen, weil das dem politischen Comment unserer Gesellschaft fundamental widerspricht. Unter dem Deckmantel der „Israelkritik“ meinen sie nicht (oder nicht nur) den Staat Israel und die Handlungen dessen Regierung, sondern „die Juden“ schlechthin.

Rabiate Aktivisten sind wenig hilfreich bei der Bekämpfung des Übels. Sie versuchen, den Begriff Antisemitismus auf die Haltung gegenüber Israel zu verengen und nach Belieben auch Anstrengungen und Ergebnisse einer akademischen Antisemitismusforschung zu denunzieren, die nicht in ein Weltbild passen, das nur das absolut Gute und das absolut Böse kennt. Die Kanzlerin hat bei der Feier des 70. Jahrestages der Befreiung des KZ Dachau antisemitische Übergriffe verurteilt als Anschläge auf die Würde des Menschen und damit auch auf die freiheitliche Grundordnung der Bundesrepublik. Dass Antisemitismus auch im 21. Jahrhundert noch Konjunktur hat, als politisches Instrument, als private Überzeugung, als unausrottbares Vorurteil, ist allerdings beschämend und beängstigend.

Von Wolfgang Benz erscheint in diesen Tagen das Buch Antisemitismus. Präsenz und Tradition eines Ressentiments. Wochenschau Verlag Schwalbach/Ts. 256 Seiten, 11,80 Euro. Am Donnerstag, 9. Juli, stellt er das Buch ab 19 Uhr in der Ausstellung Gesicht zeigen! vor (Flensburger Straße 3, Tiergarten). Er diskutiert mit Elke Gryglewski (Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz), Sophia Oppermann, Geschäftsführerin von Gesicht zeigen! und dem Publizisten und Juristen Sergey Lagodinsky, Mitglied der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde.

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