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© akg-images/Bildarchiv

Evolution und Religion: Der Wandel des Göttlichen

Lässt sich die Entstehung von Religion als evolutionärer Prozess beschreiben? Gegen diese These werden rasch Bedenken laut. Zu Recht?

Schon vor dem Darwin-Jahr sind die US-amerikanischen Debatten über das Verhältnis von Schöpfungsmythos und biologischer Wissenschaft auch nach Deutschland hereingeschwappt. Hierzulande haben diese Debatten allerdings etwas Künstliches an sich. Denn in Deutschland winken Christen in der Regel müde ab, wenn man ihnen unterstellt, sie hätten etwas gegen die Evolutionslehre und glaubten an die Bibel als überlegene wissenschaftliche Theorie.

Intellektuell viel attraktiver als die Beschäftigung mit diesen Fragen ist ein ganz anderer Versuch, Evolution und Religion miteinander in Beziehung zu setzen. Man kann ja auch fragen, ob die Evolutionstheorie, wenn sie überhaupt auf soziale und kulturelle Prozesse übertragen werden darf, nicht auch auf dem Gebiet der Religionsgeschichte neue Erkenntnisse erzeugen kann. Lässt sich die Entstehung von Religion als evolutionärer Prozess beschreiben? Kann man in der Religionsgeschichte Evolutionsstufen unterscheiden? Ist zum Beispiel die Idee der Transzendenz ein nicht mehr umkehrbarer Entwicklungsschritt, vergleichbar mit Weiterentwicklungen im Kontext der Natur?

Gegen den bloßen Versuch, in diese Richtung zu denken, werden rasch starke Bedenken geltend gemacht. Als im späten 19. Jahrhundert erstmals solche Versuche unternommen wurden, kam der Eindruck auf, hier sollte das Christentum zum Gipfel der Menschheitsentwicklung erklärt werden – und dies nicht nur im Sinn der Botschaft des Evangeliums, sondern im Sinn der protestantisch-bürgerlichen Kultur des viktorianischen oder wilhelminischen Zeitalters.

Juden, Katholiken, Nicht-Europäer, Ungläubige konnten sich mit dem ihnen zugewiesenen Platz in einem solchen Entwicklungsschema nicht einverstanden erklären. Aus dem protestantischen Christentum ging aber auch ein ganz anderer Einwand hervor: Wird nicht mit der Eingliederung von Jesus Christus in die Religionsgeschichte eine Nivellierung vorgenommen, derzufolge nicht mehr das einzigartige Ereignis der Menschwerdung Gottes im Mittelpunkt steht, sondern eine Messias- oder Prophetengestalt, wie sie in der einen oder anderen Form in verschiedenen Kulturen und Zeitaltern auftreten könnte? Dem steht wieder der Gedanke entgegen, dass selbstverständlich auch der christliche Glaube an Jesus Christus auf einem allen Menschen möglichen Gottesbewusstsein fuße.

Zwei Konsequenzen sind offensichtlich aus diesen älteren, stark theologisch aufgeladenen Debatten über den Entwicklungsgedanken in der Religionsgeschichte zu ziehen. Zum einen darf aus der Evolutionstheorie nicht ein simpler Evolutionismus werden, der eine notwendige Entwicklung zum Besseren unterstellt. Dieser war ja weniger eine Sache der Biologen gewesen als vielmehr eine Angelegenheit von Dilettanten mit stark ideologischem Antrieb.

Zum anderen muss es ein Verständnis von Religion geben, das auf prinzipiell allen Menschen zugänglichen Erfahrungs- und Interpretationsmöglichkeiten gründet. Nur dann kann die Frage, ob es Entwicklungsschritte in der Religionsgeschichte gibt, ein Höher und ein Niedriger, sinnvoll gestellt werden.

Einen entscheidenden Impuls erhielten diese Fragestellungen durch ein Buch, das der bedeutende Philosoph Karl Jaspers 1949 vorlegte: „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“. Er behauptete darin, dass alle großen Weltreligionen und übrigens auch die antike griechische Philosophie im selben Zeitraum ihren Ursprung hätten oder auf diesen zurückgeführt werden könnten. In dieser sogenannten Achsenzeit seien parallele und weitgehend unabhängig voneinander verlaufende Prozesse in den Hochkulturen des Nahen Ostens, Indiens und Chinas abgelaufen, die ein mythisches Zeitalter ablösten zugunsten eines Zeitalters der systematischen Reflexion über die Grundbedingungen menschlicher Existenz. Jaspers selbst umschrieb nur undeutlich, worin der fundamentale Wandel bestanden habe und was die mysteriöse Gleichzeitigkeit erklären könne.

Die Debatte über seine Idee setzte erst Jahrzehnte später ein und findet im Wesentlichen außerhalb der Philosophie statt. Seit im Jahr 1975 die Zeitschrift der American Academy of Arts and Sciences „Daedalus“ ein ganzes Heft dem Thema widmete, zu dem Wissenschaftler der verschiedensten Disziplinen beitrugen, hat die Diskussion ein ganz neues Niveau erreicht. Immer mehr schälte sich ein Konsens in dem Sinne heraus, dass die Achsenzeit als Zeitalter der Transzendenz oder besser noch als Zeitalter der historischen Entstehung der Idee der Transzendenz aufzufassen sei. Mit Transzendenz ist dabei eine scharfe quasi-räumliche Trennung zwischen dem Weltlichen und dem Göttlichen gemeint – eine Trennung, die nicht nur eine Differenz markiert, sondern auch eine unerhörte Spannung mit einer Fülle sozialer und politischer Konsequenzen. Denn mit diesem Gedanken ist eine Art Gotteskönigtum nicht mehr vereinbar. Der Herrscher kann nicht mehr gottgleich sein, wenn die Götter einen anderen Ort haben. Mehr noch, von nun an kann von ihm gefordert werden, sich vor göttlichen Weisungen zu rechtfertigen.

Zwei der bedeutendsten historisch- komparativ arbeitenden Soziologen der Gegenwart, Shmuel Eisenstadt und Robert Bellah, haben wegweisende Veröffentlichungen zur Achsenzeit beziehungsweise zur Frage einer Evolution der Religion vorgelegt. Das Thema „Achsenzeit“ steht hier nur exemplarisch für den Versuch, Religionsentwicklung nicht etwa biologisch zu erklären, wohl aber aus den biologischen Erklärungsinstrumenten sinnvolle Analogien für das Verständnis der Religionsgeschichte zu gewinnen.

Die enorm angeschwollene Literatur zum Thema macht den Versuch, einen Überblick zu gewinnen, wünschenswert. So ist zu fragen, ob die psychologische Theorie kognitiver Evolution das Potential hat, Stufen der Religionsgeschichte aufzuschlüsseln. Wie ändert sich unser Bild von Stammesreligionen und den Religionen unter Bedingungen früher Staatlichkeit, wenn die Achsenzeit-These zutrifft? Was ist mit nach-achsenzeitlichen „Stufen“ der Religionsentwicklung, etwa der Entstehung des Christentums oder des Islam? Wie nehmen sich Reformation und sogenannte Gegenreformation in diesem Lichte aus? Lässt sich diese Theorie überzeugend auch auf die Entwicklung der Religion in Asien anwenden? Verschwindet die Vorstellung von Transzendenz, wenn ihre räumliche Deutung unhaltbar wird? Welche Rolle spielt eine de-transzendentalisierte Religiosität in der Gegenwart? Mit diesen Fragen wird sich eine öffentliche Fachtagung der Akademie, die Christoph Markschies und der Verfasser organisieren, am 18. Dezember beschäftigen. An Stoff für lehrreiche Kontroversen dürfte dabei kein Mangel sein.

- Der Autor ist ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Leiter des Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien in Erfurt sowie Professor für Soziologie und Social Thought an der University of Chicago.

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