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Begehrt. Soay-Widder mit prächtigen Hörnern stehen bei Weibchen hoch im Kurs. Doch das hat seinen Preis: Die Tiere auf der schottischen Insel Hirta müssen sich immer wieder Kämpfen stellen und kommen kaum zum Fressen.

© Susan Johnston

Evolutionsbiologie: Hoher Preis für lange Hörner

Es ist paradox: Die Widder der Soay-Schafe mit üppiger Hornpracht kommen bei den Weibchen gut an. Eigentlich müssten ihre kurzhornigen Artgenossen längst ausgestorben sein - doch die Realität auf einer isolierten schottischen Insel sieht anders aus. Biologen suchen nach einer Erklärung.

Im Nordatlantik erheben sich die felsigen Eilande der Inselgruppe St. Kilda. Hier grasen Herden von urtümlichen Soay-Schafen. Manche Männchen prunken mit einer imposanten spiralig gebogenen Hornpracht, während die Hörner bei anderen bescheiden ausfallen oder kaum vorhanden sind. In den Kämpfen um die Weibchen sind die langhörnigen Widder im Vorteil. Sie geben deshalb ihr Erbgut häufiger weiter als die unterlegenen Träger der Hörnchen und Hornstummel.

Das Nebeneinander von Widdern mit derart unterschiedlicher Hornlänge lässt Evolutionsbiologen keine Ruhe: „Bei der sexuellen Dominanz der Langhörner müssten die Gene für kurze Hörner längst verdrängt sein“, sagt die Biologin Susan Johnston. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Jon Slate an der Universität Sheffield leitete sie ein Forschungsprojekt, um herauszufinden, warum es bei den Soay-Widdern trotz des enormen sexuellen Vorteils für Langhörnige so viele mit kurzen Hörnern oder gar Stummeln gibt.

Diese Frage attackiert ein zentrales Rätsel der Evolutionsbiologie. Es geht darum, welche Rolle die sexuelle Selektion in der Evolution spielt. Bereits Charles Darwin setzte sich damit auseinander. In seinem Werk „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“ hatte er 1859 postuliert, dass sich diejenigen Organismen mit der größten Wahrscheinlichkeit fortpflanzen, die am besten an ihre Umwelt angepasst sind. Evolutionär auserlesene Merkmale fördern das Überleben. Doch wie waren im Lichte dieser Theorie Eigenheiten wie etwa die ausladenden Zierschwänze der Paradiesvögel oder Pfauen zu erklären? Diese behinderten doch eher das Überleben, etwa bei der Flucht vor einem Raubtier.

Die sexuelle Selektion ist wenig verstanden

1871 schlug Darwin eine Erklärung vor. Demnach sind solche Ornamente für die Weibchen attraktiv, sie wählen diese Männchen bevorzugt aus. Sexuelle Selektion heißt das Phänomen, dass tierische Eigenschaften bevorzugt vererbt werden, weil sie im Wettbewerb um das andere Geschlecht Vorteile bieten. Manchmal ist sexuelle Selektion auch indirekt, wenn etwa Männchen um Weibchen kämpfen. Dabei können die tierischen Waffen für die Kämpfe im Laufe der Evolution immer besser werden, wie etwa das Hirschgeweih oder auch die spiraligen Hörner der Soay-Widder.

Die Mechanismen der sexuellen Selektion sind wenig verstanden. Der Vorteil für die im sexuellen Wettbewerb siegreichen Merkmale ist jedenfalls groß. Umso erstaunlicher ist es, dass bei vielen Tierarten, in denen sexuelle Selektion wirksam ist, keineswegs nur die Sieger-Eigenschaften zu finden sind, sondern auch die benachteiligten Merkmale.

Über dieses „Paradox der Evolutionsbiologie“ wird heftig diskutiert und es kursieren zahlreiche Erklärungsversuche. Etwa die „Gute Gene“-Hypothese. Demnach zeigt die starke Ausbildung eines sexuell erfolgreichen, aber „teuren“ Merkmals eine insgesamt gute Überlebens-Fitness des Organismus an. Ein weiterer Ansatz behauptet exakt das Gegenteil. Dass nämlich Genvarianten für sexuell erfolgreiche Merkmale mit Überlebensnachteilen verbunden sind und Genvarianten für sexuell weniger erfolgreiche Merkmale mit Überlebensvorteilen („Trade-off“-Hypothese).

Daten von hunderten Schafen ausgewertet

„Diese Ideen bleiben nur Gedankenspiele, solange wir so wenig über die genetische Architektur jener tierischen Eigenheiten wissen, die bei der sexuellen Selektion wichtig sind“, sagt Susan Johnston. Um das Problem anzugehen, mussten die Forscher herausfinden, ob es zwischen Tieren mit unterschiedlichen Hornlängen auch genetische Unterschiede gibt. Und das bei einer großen Anzahl von Schafen. Dass dieser Vergleich überhaupt möglich war, beruhte auf zwei glücklichen Umständen.

Glücksfall eins: Seit 1985 beobachten Forscher auf dem Archipel St. Kilda besonders die Schafe der Insel Hirta. Für die meisten Individuen auf Hirta liegen seitdem Daten vor, die neben der Hornlänge beispielsweise die Eltern nennen (der Vater wurde stets molekularbiologisch festgestellt), die Zahl der Nachkommen pro Jahr und die Lebensdauer. Auch Blut- und Gewebeproben stehen zur Verfügung und damit im Prinzip das gesamte Erbmaterial.

Glücksfall zwei: Schafe gehören zu den wenigen Tierarten, deren Erbgut so gut untersucht ist, dass bei ihnen die schnelle Technik der „SNP-Mikrochips“ zur Verfügung steht, mit der die Beziehung von Genen zu Merkmalen analysiert werden kann. Die Forscher untersuchten damit genetisches Material und Daten von 2632 Soay-Schafen. Dabei fanden sie heraus, dass die Hornlänge stark unter dem Einfluss eines einzigen Gens steht. Dieses Horn-Gen tritt in zwei Varianten auf. „Ho+“ fördert Langhörnigkeit, während „HoP“ Stummel begünstigt. Da jedes Tier zwei Sätze Genmaterial besitzt – einen von jedem Elternteil – gibt es in Bezug auf das Horn-Gen drei Sorten Soay-Widder. Tiere mit Ho+ in beiden genetischen Sätzen haben die längsten Hörner. Tiere mit zwei HoP-Genen haben Stummel, während Widder mit je einem Ho+ sowie einem HoP in ihrem Erbgut mittellange Hörner tragen.

Langhörnige Widder sterben früher

Damit war die Hypothese der „guten Gene“ bereits widerlegt. Wenn die Hornlänge mit der allgemeinen Fitness eines Tieres ansteigt, dann müssten viele Gene systematisch mit ihr variieren und nicht nur eines.

Als Nächstes testeten die Biologen, ob eine größere Hornlänge vielleicht eine geringere Überlebenstauglichkeit bedeutet und umgekehrt, wie es die „Trade-off“-Hypothese postuliert. Tatsächlich stellte sich heraus: Die stummelhörnigen Widder haben zwar weniger Nachkommen pro Jahr als die sexuell erfolgreichen langhörnigen Männchen, doch leben sie im Durchschnitt viel länger als diese und können deshalb ebenfalls eine stattliche Zahl von Sprösslingen zeugen. Sexueller Vorteil geht also mit einem Lebensdauernachteil einher und umgekehrt.

Die meisten Nachkommen haben jedoch die Widder mit der mittleren Hornlänge, die also beide Arten des Horn-Gens trugen. Diese Tiere waren einerseits bei den Weibchen fast so erfolgreich wie die langhörnigen Männchen. Andererseits lebten sie fast so lange wie ihre stummelhörnigen Artgenossen. Weitere Analysen machten plausibel: Es ist vor allem die überlegene Gesamtfitness dieser Widder, die letztlich dazu führt, dass sich das „Kurzhorn-Gen“ weiter erhält und nicht ausstirbt, berichteten die Wissenschaftler im Fachmagazin „Nature“.

Nun gilt es, diese Prinzipien bei anderen Tierarten zu erforschen

Eine wesentliche Frage bleibt jedoch weiterhin unbeantwortet: Warum ist die Genvariante für längere Hörner verbunden mit einem kürzeren Leben und umgekehrt? „Es hat wohl etwas mit dem gewaltigen Stress für die dominanten Männchen zu tun“, vermutet Johnston. Langhörnige Widder können über die herbstliche Brunftperiode hin die Hälfte ihrer Zeit damit verbringen, die eroberten Weibchen zu bewachen. Sie fressen deshalb weniger und erschöpfen sich bei den zahlreichen Kämpfen. Widder, die bei diesen Rangeleien nicht so erfolgreich sind – wie etwa die mit den Stummelhörnchen –, vermeiden solche Mühen. Sie streunen herum und kopulieren, wie es sich ergibt.

Wie es aussieht, ist damit die rätselhafte Koexistenz von sexuell vorteilhaften und nachteiligen Eigenschaften im Falle der Soay-Widder wesentlich aus den Wirkungen eines einzigen Gens heraus zu verstehen. „Nie hätte ich gedacht, dass die Lösung so einfach ist!“, sagt Johnston heute. Nun gelte es herauszufinden, ob die gefundenen Prinzipien sich auf andere Tierarten übertragen lassen, um das evolutionsbiologische Rätsel auch dort zu lösen.

Franz Mechsner

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