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Darwin statt Kreuz. Die Bücher von Richard Dawkins (75) kreisen um die Ideen des Begründers der Evolutionstheorie.

© Aus dem Buch

Evolutionstheorie: Darwins Streiter

Biologe, Autor und Atheist: Der streitbare und umstrittene Richard Dawkins hat seine Memoiren vorgelegt.

1976 brachte ein junger Wissenschaftler von der Universität Oxford die Welt der Biologie in Unordnung. Seine Name: Richard Dawkins. Mit seinem ersten Buch, dem er den provokanten Titel „Das egoistische Gen“ gab, löste der 35-Jährige ein bis heute nachhallendes geistiges Beben aus. Und bis heute ist Dawkins jemand, der keine lauwarmen Reaktionen zulässt. Man kann ihn lieben oder hassen, ist für oder gegen ihn – gleichgültig lässt er kaum jemanden. „Man kann mir vieles vorwerfen, aber nicht, dass ich ein Langweiler bin“, hat Dawkins dazu mit dem ihm eigenen Sarkasmus bemerkt. Pünktlich zu seinem 75. Geburtstag ist nun seine Autobiografie unter dem Titel „Die Poesie der Naturwissenschaften“ auf Deutsch erschienen.

„Das egoistische Gen“ ist eigentlich eine Abrechnung mit der Idee der Gruppenselektion. Also der Vorstellung, dass die Ebene der Gruppe eine wichtige Bühne ist, auf der sich die Evolution, die Entwicklung der Lebewesen, abspielt. Die natürliche Auslese (Selektion), der Motor der Evolution, begünstigt demnach Gruppen von Organismen. Der Einzelne tritt hinter dem Kollektiv zurück.

Das Tier tötet keinen Artgenossen - oder?

Die Gruppenselektion hat zur Folge, dass Lebewesen für das Allgemeinwohl handeln, dass sie den Altruismus über den Egoismus stellen, sich gar für die Gruppe aufopfern. Eine populäre Ausprägung, die insbesondere der Verhaltensforscher Konrad Lorenz bekannt machte, geht davon aus, dass sich Vertreter einer Art nicht untereinander schaden. Ein unterlegener Wolf bietet dem siegreichen seine Kehle zum tödlichen Biss an. Dieser verschont den Verlierer. Denn er wird seiner Art keinen Schaden zufügen.

Ganz anders Dawkins’ Argumentation. Genüsslich zerpflückt er die Ideen von Lorenz und stellt in einer revolutionären Wendung das einzelne Gen in das Rampenlicht des evolutionären Geschehens. Das Gen ist „egoistisch“. Es ist ein Replikator, es kann und will sich vermehren. Zu diesem Zweck benutzt es Überlebensbehälter, die Organismen. Während diese vergänglich sind, ist das Gen selbst potenziell unsterblich. Es existiert weiter in den Nachkommen eines Lebewesens.

Die Vorstellung hat etwas Science-fiction-Artiges. Dawkins macht klar, dass Replikatoren nicht an die Erbinformation DNS geknüpft sind. Irgendwo anders im Weltall mag es Replikatoren geben, die aus ganz anderem Holz geschnitzt sind (oder aus Immateriellem bestehen, aus Information). Aber das Prinzip der Vermehrung ist das gleiche, die Regeln der Evolution gelten überall.

Das Gefühl, selbst ein Genie zu sein

Dawkins gibt dem Leser das Gefühl, selbst am Prozess der Erkenntnis teilzuhaben, ermöglicht ihm das Hochgefühl von Heureka-Momenten. Das macht das „egoistische Gen“ noch heute zu einer mitreißenden Lektüre. Dabei ist er nicht unbedingt originell, sondern popularisiert die Ideen bahnbrechender Biologen wie Robert Trivers, John Maynard Smith oder William Hamilton, um nur einige zu nennen. Der Autor Dawkins steht nicht nur auf den Schultern von Riesen, er ist auch ihr Lautsprecher. Der größte dieser Riesen ist, daran lässt er nicht den Hauch eines Zweifels, Charles Darwin, der Begründer der Evolutionstheorie.

„Das egoistische Gen“ ist weit mehr als eine innerbiologische Streitschrift. Es ist fast ein metaphysisches Programm, aus dem sich Dawkins' weitere Werke entwickeln. An die Stelle von Sentimentalitäten (Das Tier kämpft für die Erhaltung der Art) treten Nüchternheit und Kalkulation. Wie stellt es ein Replikator an, die Zahl seiner Nachkommen im Genpool zu vergrößern? Dawkins bemüht die Spieltheorie. Mit ihr können evolutionäre Strategien erklärt werden.

Dawkins liebt die Natur, aber er sieht in ihr keinen romantischen Gegenpol zur Kultur (eine in Deutschland beliebte Denkweise), sondern vielmehr das große Schauspiel der Evolution. Und er erlaubt dem Leser einen Blick hinter die Kulissen dieser Aufführung.

"Egoistische Gene" gibt es nicht - zumindest nicht im Wortsinn

Die Natur kann gnadenlos und brutal sein. Aber sind Gene „egoistisch“? Das sicherste Zeichen dafür, dass ein Dawkins-Kritiker keine Zeile von ihm gelesen hat, besteht darin, dass dieser behauptet, Dawkins würde dem Egoismus das Wort reden, weil bei ihm ja schon die Gene egoistisch seien. Das ist selbstverständlich Unfug. Bereits in seinem ersten Buch betont Dawkins mehrfach, dass das „egoistische Gen“ lediglich eine Metapher ist. Wir können das Verhalten der Gene besser verstehen, wenn wir uns in sie hineinversetzen und ihnen menschliche Eigenschaften zuschreiben. Ein didaktischer Kniff, mehr nicht. Außerdem folgt aus eigensüchtigen Genen nicht, dass auch ihre Träger egoistisch sind. Tiere sind aus guten Gründen durchaus zu Altruismus fähig, macht Dawkins deutlich. Und schließlich sind wir Menschen kraft unseres Verstandes dazu in der Lage, uns über das Diktat der Gene hinwegzusetzen.

Herzlos, kalt, egoistisch – diese Vorwürfe müssen Dawkins tief getroffen haben. Sie mögen ein Grund für das Schreiben seiner Autobiografie gewesen sein. In seinem Buch zeichnet er eine Art Gegenbild. Der Ton ist freundlich, fast versöhnlich. Er erzählt pointiert und meist kurzweilig aus seinem Leben, beginnend mit den Kinderjahren in Afrika als Sohn eines britischen Kolonialbeamten, plaudert über seinen riesigen Freundes- und Bekanntenkreis (darunter der Schriftsteller Douglas Adams und der Naturfilmer David Attenborough) und gibt Anekdoten zum Besten, etwa über skurrile akademische Rituale in Oxford.

Dawkins begründete den "neuen Atheismus"

Oder über eine Begegnung mit der Königin, die ihn zu ihrem wöchentlichen Lunch mit Vertretern des öffentlichen Lebens eingeladen hatte. Dawkins trug eine von seiner Frau, der Schauspielerin Lalla Ward, bemalte Krawatte, auf der Warzenschweine zu sehen waren. „Warum haben Sie so hässliche Tiere auf Ihrer Krawatte“, fragte die Queen. „Ma’m, wenn die Tiere hässlich sind, wie viel größer ist dann die Kunst, eine so schöne Krawatte herzustellen?“ konterte Dawkins.

Nach seinem Bucherfolg ist Dawkins nicht mehr wirklich in die Wissenschaft zurückgekehrt. Es folgte eine Reihe von glänzend geschriebenen Sachbüchern, in denen er die Ideen der Evolutionstheorie verbreitete. Er etablierte sich als Autor, moderierte populärwissenschaftliche Fernsehsendungen und hielt Vorlesungen für das große Publikum mit dem Ziel, das Interesse an Natur und Wissenschaft zu wecken. „Lust auf Wunder“ („An Appetite for Wonder“) hieß denn auch der Titel des ersten Bandes seiner Memoiren im Englischen. Er ist in der deutschen Ausgabe mit dem zweiten Band „Eine Kerze im Dunkeln“ zusammengefasst.

Dawkins ist Mitglied des illustren Kreises um den New Yorker Literaturagenten John Brockman. Von dem stammt der Begriff der „dritten Kultur“. Dahinter verbergen sich Köpfe vorwiegend aus Natur- und Computerwissenschaften, eine technikfreundliche Elite vom Amazon- und Google-Chef bis zum New Yorker Kosmologen und Harvard-Psychologen.

"Der Gotteswahn" traf den Nerv der Zeit

John Brockman war es auch, der sich nach anfänglichen Zweifeln entschloss, Dawkins’ atheistisches Buchprojekt zu betreuen. „Der Gotteswahn“ erschien 2006 und machte Dawkins, inzwischen Inhaber einer Stiftungsprofessur für „Public Understanding of Science“ in Oxford, weltberühmt; es verkaufte sich mehr als drei Millionen Mal (eine Viertelmillion auf Deutsch). Wie sehr er einen Nerv getroffen hatte, zeigt sich darin, dass es mehr als 20 Titel gab, die sich mit dem „Gotteswahn“ auseinandersetzten – meist, um ihren Autor zu widerlegen („Dawkins’ Wahn“ oder „Gott ist kein Wahn“ heißen sie etwa). „Flöhe“ nennt sie Dawkins spöttisch. Stolz zeigt er eine Strecke erlegter Buch-Flöhe neben dem Original.

Dawkins „Gotteswahn“ wurde zum Gründungsdokument des „neuen Atheismus“, er selbst zu ihrem führenden Vertreter. Es sind vor allem Argumente aus der Naturwissenschaft, auf die Dawkins sich beruft. Natur und Kosmos kommen ohne Schöpfer aus, ein Leben ist auch ohne Gott sinnvoll. „Wir werden sterben, und deshalb gehören wir zu den Glücklichen“, heißt eines seiner Zitate. „Die meisten Menschen werden niemals sterben, weil sie niemals geboren wurden.“ So kann man Glück auch begreifen.

Das Gefühl, als Ungläubiger nicht allein zu sein

Atheisten sind Individualisten und Nonkonformisten. Trotzdem hat es der „neue Atheismus“ geschafft, ihnen so etwas wie eine gemeinsame Identität zu geben – und sei es, um sich von ihr abzusetzen. So ist es Mode, sich nach dem Motto „Ich bin Atheist, aber keiner von diesen fanatischen neuen ...“ von Dawkins und den seinen abzugrenzen. Zehn Jahre nach dem „Gotteswahn“ gibt es noch immer keine atheistische Kirche (von der des „fliegenden Spagettimonsters“ einmal abgesehen), wohl aber ein wachsendes Bewusstsein, in einer Welt voller Religion als Ungläubiger nicht allein zu sein.

Dawkins gehört zu den bedeutendsten lebenden Denkern. Seine Autobiografie zeigt ihn von seiner menschlichen und alltäglichen Seite, auch wenn die „Lust auf Wunder“ immer spürbar ist. Und Appetit auf den Autor Dawkins macht.

– Richard Dawkins: Die Poesie der Naturwissenschaften: Autobiografie. Ullstein Verlag, Berlin 2016. 736 Seiten, 38 Euro.

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