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Militär trifft Monarchin. Charles de Gaulle (li.), der spätere französische Präsident, spricht 1941 in London mit Elizabeth, der Frau des britischen Königs George VI. De Gaulle gehörte zu den militärischen Leitungsfiguren, die erst im Exil rapide an Macht gewannen. Foto: AFP

© AFP

Exil im Zweiten Weltkrieg: Als London zur Hauptstadt Europas wurde

Im Zweiten Weltkrieg wurde England zum Sitz vieler Exilregierungen. Aus ihnen bildete sich später die politische Elite Europas – eine Elite mit Fluchterfahrung.

Königin Wilhelmina wollte die Niederlande nicht verlassen. Die fast 60-jährige Königin war seit über 40 Jahren an der Macht und lehnte es ab, ihr Volk in der Stunde der Gefahr sich selbst zu überlassen. Doch die Luftangriffe der Wehrmacht im Mai 1940 hatten jegliche Kommunikation zwischen ihr und den niederländischen Truppen abgeschnitten. So blieb es ihr verwehrt, „das Los des Kriegers zu teilen“ und „als der letzte Mann zu sterben im letzten Laufgraben“, wie sie es in ihren Erinnerungen formulierte. Konfrontiert mit dem schnellen deutschen Vormarsch gab sie letztendlich ihren politischen und militärischen Beratern nach, die argumentierten, dass das Exil in London ihr mehr Handlungsoptionen biete als eine deutsche Gefangenschaft.

Am 14. Mai 1940 erreichte die Königin mit dem Zug Liverpool Street Station – als Geflüchtete, angeblich nur bekleidet mit einem Regenmantel über Morgenrock und Nachtwäsche. Die Figur der Königin ohne Hab und Gut auf fremdem Boden vereint zwei kontrastierende Bilder: Staatsoberhaupt und Flüchtling; Macht und Ohnmacht; Befehlen und Unterordnen. Im Fall der europäischen Exilregierungen, die im Zweiten Weltkrieg Zuflucht in Großbritannien suchten, verbanden und kristallisierten sich diese Gegensätze.

Der Zweite Weltkrieg entwurzelte 175 Millionen Menschen

Der Zweite Weltkrieg markierte einen Wendepunkt der Flüchtlingsregime. So viele Menschen wie nie zuvor (und bisher auch nicht danach) wurden durch diesen Krieg entwurzelt. Schätzungen gehen von 60 Millionen Flüchtlingen allein in Kontinentaleuropa aus, 175 Millionen weltweit. In der Flüchtlingsforschung stehen zu Recht vor allem die größten dieser Flüchtlingsgruppen im Mittelpunkt, die am meisten unter Deportationen, Vertreibungen, Verfolgung zu leiden hatten.

Kaum beachtet wurde bisher, dass viele Angehörige der europäischen Nachkriegselite zu diesen Flüchtlingen zählten. Die temporäre Migration nach London ist ein wichtiges Beispiel nicht nur für die Geschichte der Zwangsmigration während des Zweiten Weltkrieges, sondern auch für die spezifische Geschichte der europäischen Nachkriegselite. Durch die Existenz exilierter Regierungen in London wurde die staatliche Macht in der Mitte des 20. Jahrhunderts hinterfragt und musste neu definiert werden.

Die Ankunft der niederländischen Königin in London kam trotz aller Vorzeichen für viele überraschend. Obwohl der Zweite Weltkrieg offiziell mit dem deutschen Einmarsch in Polen am 1. September 1939 begonnen hatte, blieb der Krieg in Westeuropa lange abstrakt. Erst zwischen Mai und September 1940 wurde aus der – in Londoner Perspektive – osteuropäischen Krise ein europäischer Krieg und London zur Hauptstadt des freien Europas.

Die Briten hatten Angst, von Flüchtlingen überrannt zu werden

Nur mit viel Mühe, Glück und nicht zuletzt teils mit britischer Unterstützung gelangten europäische Flüchtlinge nach Großbritannien. Plätze in Flugzeugen waren noch schwerer zu ergattern als die bereits stark begrenzten Plätze auf Schiffen. Die Angst der Briten davor, von Flüchtlingen des Weltkrieges überrannt zu werden, hatte zu einer restriktiveren Gesetzgebung und strengeren Sicherheitskontrollen geführt. Das tägliche Leben der Geflüchteten unterlag strengen Regeln: keine unerlaubten Ausflüge, keine Fahrräder, kein Radio, keine Autos oder Kameras – nichts, was in den Verdacht geraten könnte, bei Spionagetätigkeiten oder Sabotageakten dienlich zu sein.

Angesichts ihrer Bedeutung für die alliierte Kriegsführung sowie aufgrund wiederholten Fürsprachen und Einwänden seitens der Europäer erklärte sich die britische Regierung bereit, die Exilregierungen in London nicht als Flüchtlinge, sondern als Gäste der britischen Krone anzusehen. Sie erließ Ausnahmen von den üblichen Vorschriften, stellte Bargeld und Kredite zur Verfügung, aber auch Infrastruktur, etwa die Möglichkeiten des Foreign Office, der Sicherheitsdienste und der Schifffahrt.

Im Februar 1941 beantragte das Foreign Office, den Angehörigen der Exilregierungen diplomatische Immunität zu verleihen. In seiner Begründung erklärte Richard Austen Butler, Under-Secretary of State for Foreign Affairs und späterer Minister: „We have in London at the present time a miniature Europe. We wish, consequently, to adjust the law of our country in order to meet the international character of our capital.“

Die geflüchteten Europäer mit Macht waren in London eine disparate Gruppe: Regierungsmitglieder, einflussreiche Politiker, Intellektuelle, Verwaltungsmitarbeiter, Militärangehörige, juristische und diplomatische Eliten und sogar Monarchen, darunter neben Königin Wilhelmina auch König Haakon VII. von Norwegen, Peter II. von Jugoslawien und Georgios II. von Griechenland. Gefahrlos war auch die Flucht für sie nicht, dennoch waren sie vergleichsweise privilegiert: Sie erreichten Großbritannien unter britischem Geleit und wurden vom britischen König George VI. persönlich in Empfang genommen. Wichtig war es ihnen vor allem Gerüchte zurückzuweisen, sie hätten durch den Gang ins Exil abgedankt.

Das Machtvakuum bot Aufstiegsmöglichkeiten

Mitunter konnten Regierungschefs weiterhin die Zusammenarbeit mit ihren vertrauten Kollegen fortführen. Bestes Beispiel ist der belgische Premierminister Hubert Pierlot mit seinem Kabinett, hier mussten nur wenige Stellen aus dem Kreis der weiteren zivilen Geflüchteten neu besetzt werden. Andererseits bot das oft entstehende Machtvakuum auch Aufstiegsmöglichkeiten für militärische Leitfiguren. Dies trifft ganz besonders für den polnischen General Wladyslaw Sikorski und seinen französischen Kollegen Charles de Gaulle zu, die – vor dem Krieg in deutlich weniger zentralen Positionen – im Londoner Exil rapide an Macht gewannen. Schließlich entstanden Netzwerke von Intellektuellen: Etwa ein Netzwerk internationaler Juristen, das konkrete Nachkriegs- und Friedenspläne entwickelte.

Den Listen des Foreign Office zufolge waren im September 1941 von Seiten der alliierten Exilregierungen 55 Personen als Mitglieder der Regierungen gemeldet, weitere 282 Personen als Official Staff, also Festangestellte der Regierungen. Im Dezember 1942 war der Kreis bereits deutlich größer: 89 Regierungsangehörige und 488 Mitarbeiter.

Je mehr europäische Flüchtlinge nach London kamen, und je etablierter der Status der nationalen Gruppen wurde und sie offiziell als Nationalkomitees und Exilregierungen anerkannt wurden, desto offensichtlicher wurde ihre Existenz auch im Londoner Stadtbild. Zunächst dienten die Botschaften vor Ort als Hauptsitz für die Exilregierungen. Bald wurden zusätzliche Wohnungen oder gar Häuser angemietet. Die bereits ansässigen kulturellen Einrichtungen wie das Institut français, der Polish Hearth Club (Ognisko Polskie) und das Czechoslovak Institute wurden ebenfalls zu wichtigen Anlaufpunkten. Die Europäer in London trafen sich zu interalliierten Komitees in angemieteten Tagungsräumen, verabredeten sich aber auch in kleinerem und größerem Kreis in Privathäusern, Hotels und Restaurants sowie Gentlemen Clubs.

Über Nacht wurde London eine Metropole

Die Anwesenheit der europäischen Exilregierungen veränderte London und transformierte die Hauptstadt des British Empire beinahe über Nacht in eine europäische Metropole. So schufen sowohl die Anwesenheit der Europäer als auch die Bereitschaft der Briten, sich (zumindest vorübergehend) auf die neue Rolle Londons als Zufluchtsort einzulassen, einen Mikrokosmos, der enge politische Kommunikation unter zeitlich und räumlich verdichteten Umständen erlaubte: den „London Moment“.

In London entwickelte sich eine gemeinsam konstruierte Identität, der drei Zeitebenen zu Grunde lagen: die Interpretation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dabei stand die Vergangenheit für eine alliierte Kooperation, die in den meisten Fällen als eine gemeinsame Erfahrung des Ersten Weltkrieges gedeutet wurde. Die Einbeziehung der Gegenwart erfolgte über die Allianz im zeitgenössischen (Zweiten) Weltkrieg, über gemeinsame Interessen und den gemeinsamen „war effort“.

Die Zukunft spielte bei der Ausbildung dieser transnationalen Identität eine Rolle als Fluchtpunkt und Projektionsfläche. Kleinster gemeinsamer Nenner war der Sieg über Hitler, die Wiedererlangung staatlicher Unabhängigkeit der besetzten Länder. Darüber hinaus gab es gemeinsame Denkkollektive, in denen Zukunftsvisionen entworfen, mitunter auch durchgespielt und wieder verworfen wurden. Während der Kriegsjahre wurden so im Bestreben nach klaren Friedenszielen verschiedene europäische Föderationen und Kooperationen erwogen. Diskutiert wurden der Abbau staatlicher Souveränität und der Aufbau europäischer Zusammenarbeit auf wirtschaftlicher, finanzieller, militärischer und politischer Ebene.

Eigene Fluchterfahrungen führten nicht zu liberalerer Flüchtlingspolitik

Die meisten Exilregierungen blieben für die Dauer der deutschen Besatzung ihrer Staaten in London: von 1940 bis 1944/45. Nach Kriegsende gelang es ihnen oft nicht, ihre politische Macht aufrechtzuerhalten; dies galt auch für die britische Regierung unter Winston Churchill. Das Erbe der Exilregierungen und des „London Moment“ hingegen wirkte fort. Viele der „Londoner Europäer“ verfolgten eine weitere Karriere in prominenten Positionen des eigenen Landes, auf europäischer Ebene oder bei den Vereinten Nationen.

Politische Macht und Ohnmacht waren durch die Erfahrung der Flucht (und des Exils) eines signifikanten Teils der politischen Elite Europas eng miteinander verknüpft. Dabei kann keinesfalls von einer Einbahnstraße zur Aufwertung von Menschenrechten und einer Liberalisierung der Flüchtlingspolitik gesprochen werden. Auf der nationalen Ebene kehrten die meisten europäischen Nachkriegsregierungen zu strengen Reglements von Migration zurück oder befürworteten staatlich gelenkte Bevölkerungsverschiebungen. Im internationalen Diskurs jedoch trugen die „Londoner Europäer“ zur Errichtung eines neuen Ordnungssystems sowie zur Internationalisierung von Recht, Migration und Kooperation bei, die parallel zum Kalten Krieg fortwirkte.

- Die Autorin ist Historikerin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Der hier veröffentlichte Text basiert auf einem Artikel in der Zeitschrift „Zeithistorische Forschungen“ (zeithistorische-forschungen.de).

Julia Eichenberg

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